Am 27. Tag der Hauptverhandlung gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann wurden zwei psychologische Gutachter gehört, die mit Stephan Ernst in seinem Verfahren von 1994 betraut waren. Weiterhin wurde Stephan Ernst vom Gericht zu seinem persönlichen Werdegang befragt. Besonders infrage gestellt wurde dabei, ob die Aussage, Ernst habe sich 2011 aus der Naziszene zurückgezogen, aufgrund der Beweislage haltbar ist.
Beide psychologischen Gutachter wurden auf einen Beweisantrag von Hartmanns Verteidigerin Nicole Schneiders geladen. Stephan Ernst war bei seinem Strafverfahren 1994 wegen des Messerangriffs auf der Toilette im Wiesbadener Hauptbahnhof von insgesamt drei Psychologen begutachtet worden, von denen einer verstorben ist, die anderen beiden für den heutigen Tag als Zeugen geladen wurden. Während der zweite Zeuge, Dr. Gutmark, sich nicht mehr an die Begutachtungssituation erinnern konnte und nach 15 Minuten wieder entlassen wurde, konnte der erste Zeuge, Dr. Jöckel, einige Angaben zu seinen Erinnerungen machen. So sagte er aus, dass er den „unbändigen Fremdenhass“, den der verstorbene Gutachter Dr. Glatzl Stephan Ernst attestiert hatte, eher aus schlechten Erfahrungen heraus motiviert sah, denn politisch. Anschließend wurde erörtert, ob der Gutachter die damalige Diagnose, eine Borderline-Störung, heute noch für angebracht hält und wie sich solche Störungen aus seiner Sicht über die Lebenszeit entwickeln.
Noch vor der Mittagspause begann der Senat Stephan Ernst zu seinen persönlichen Lebensumständen und seinem biographischen Werdegang detailliert zu befragen. Ernst wuchs in Wiesbaden-Erbenheim auf, die Familie lebte dort, bis er neun Jahre alt war. Die Eltern kauften ein Haus in Taunusstein, in das sie und der vier Jahre ältere Bruder zogen, während Ernst den Rest des Schuljahres noch bei der Großmutter verblieb, bis auch er nach Taunusstein zog. Der Umzug sei für ihn schlimm gewesen, da er seine Freunde zurück lassen musste. Das Verhältnis zu seinem Bruder beschrieb Ernst als gut, sein Vater hingegen sei gewalttätig und alkoholabhängig gewesen. Er habe das Gefühl gehabt, seinen Eltern seien die Hunde der Familie wichtiger gewesen als er. Auch seine schulischen Leistungen hätten sich verschlechtert. Seine rassistische Einstellung habe er vom Vater mitbekommen. Seine frühen Straftaten seien aber nicht Ausdruck dieser Einstellung gewesen, sondern ein Racheakt an einem Mitschüler. Dabei versuchte er, im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem der Junge mit türkischer Migrationsgeschichte lebte, einen Brand mit Benzin zu legen. Insgesamt zeigte Ernst wenig Gefühl bei der Beschreibung seiner Straftaten. So erklärte er den Messerangriff im Wiesbadener Hauptbahnhof damit, dass ihn der Mann auf der Toilette angemacht habe. Daraufhin sei er in die Kabine gegangen, habe sein Messer bereit gemacht und sein Opfer angegriffen. Erst als er zu den Auswirkungen seiner Taten auf seine Familie zu sprechen kam, wurde Ernst emotional.
Zu seinen politischen Tätigkeiten in Kassel gab Ernst an, dass er an „Anti-Antifa“ Aktionen beteiligt war. Dafür seien Informationen über politische Gegner*innen gesammelt worden, um sie mit Sachbeschädigung und körperlichen Übergriffen einzuschüchtern. Ernst gab an, 2009 aus der Szene ausgestiegen zu sein. Das erklärte er damit, dass er nicht mehr aktiv auf der Suche nach Kontakten in die Szene war. Auf die Frage des Psychiaters Leygraf, der Stephan Erst im aktuellen Verfahren begutachtet, ob Ernst in seiner damals laufenden Therapie über diesen Prozess gesprochen habe, verneinte dieser. Das habe er „mit sich selbst ausgemacht“.
An der These des Ausstiegs zweifelte auch die Verteidigung von Markus Hartmann. Die Bundesanwaltschaft schreibt Hartmann eine Schlüsselrolle in der Re-Radikalisierung Ernsts zu. Diese Rolle, so die Verteidigung, könne Hartmann nicht ausgefüllt haben, wenn Ernst sich nie von der Szene distanziert habe. Als Beweis dafür wurde erneut das Foto einer Sonnenwendfeier in Asbach, Thüringen, gezeigt, die von Thorsten Heise organisiert wurde. Auf die Frage, in welchem Verhältnis Ernst zu Heise stehe, antwortete der, dass es an sich kein persönliches Verhältnis gebe. Sie seien einmal von einer Demonstration in Dresden gemeinsam zurückgefahren, einmal habe Ernst sich an einer „Hausverteidigung“ bei Heise beteiligt. Dass Ernst aber „ausgestiegen“ sei, daran hielt er fest. Er sei bei der Sonnenwendfeier nur körperlich anwesend gewesen. Da in der Presseberichterstattung der WELT eine zweite Sonnenwendfeier benannt worden war, wurde Ernst auch danach gefragt. Dieser Frage konnte nicht geklärt werden.
Die Beschreibungen seiner politischen Gesinnung blieben auch auf mehrfache Nachfragen hin sehr abstrakt und wenig greifbar. Ernst wird seit kurzem von dem behördlichen Aussteigerprogramm „Ikarus“ betreut. Er gab an, Informationen über die Szene preis zu geben. Richter Sagebiel fragte ihn konkret nach den Schüssen auf einen Antifaschisten in Kassel 2001, zu denen Ernst aber keine Angaben machen konnte.
Richter Sagebiel klärte noch den Termin der Aussage von Frau Braun-Lübcke. Man könne sie am nächsten Dienstag „dazwischen schieben“. Der Anwalt der Nebenklage Lübcke, Prof. Dr. Matt, kritisierte die Wortwahl und forderte einen Termin mit mehr Vorbereitungszeit für die Witwe von Walter Lübcke. Dem kam das Gericht entgegen.
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