37. Prozesstag, 10. Dezember 2020 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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Im Fokus standen an diesem Prozesstag neue Anträge der Nebenklage Ahmed I., diverse Erklärungen der Verteidigung Hartmann, die Aussage von Christoph Lübcke und Einlassungen von Ernst am vorigen, 36. Prozesstag. Anhand von Fotografien, die von Beamten des Polizeipräsidiums Nordhessen gemacht worden waren, sollten Angaben von Ernst vom letzten Prozesstag überprüft werden, weshalb Christoph Lübcke erneut in den Zeug*innenstand gerufen wurde. Außerdem wurde Stephan Ernst durch den Senat befragt. Dabei konnte festgestellt werden, dass seine Angaben zu seinem Ausstieg aus der rechten Szene fragwürdig sind.

Gleich zu Beginn dieses Prozesstages stellte Alexander Hoffmann, Anwalt der Nebenklage Ahmed I., zwei neue Anträge und kündigte für den darauffolgenden Prozesstag weitere an. Richter Sagebiel machte auch hier wieder deutlich, dass der Senat „eigentlich mit dem Beweisprogramm durch“ sei und dass neue Anträge zügig gestellt werden sollten. Hoffmann beantragte, dass Mitarbeiter*innen der Wahlkreisbüros von Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der Linken aus Kassel bestätigen sollten, dass keine Wahlplakate im Januar 2016 zerstört wurden, wie Ernst behauptet hatte. Weiter beantragte Hoffmann, dass die Akte in den Prozess eingeführt werden sollte, in der die Auswertung des Handys der Tochter von Ernst vermerkt worden war. Bei der Sichtung dieses Handys wurden zahlreiche Chats zwischen Stephan Ernst und seiner Mutter gefunden: mit Bezug zur „Silvesternacht von Köln“, einen Chat am 5.1.2016 (einen Tag vor dem versuchten Mordanschlag an Ahmed I.), sowie Chats, die sich auf die Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden bezogen haben.

Da Christoph Lübcke am 36. Prozesstag im Zeug*innenstand Markus Hartmann belastet hatte, bezogen sich beide Verteidiger*innen von Hartmann mit ihren Erklärungen darauf. Der Zeuge hatte angegeben, zwei Männer in Istha gesehen zu haben, als er sich mit seinem Vater am Zaun seines Hauses unterhielt. Einen größeren und einen kleineren mit einer Tarnjacke, dessen Gesicht ihn an eine Guy-Fawkes-Maske erinnerte und der eine „Batschkapp“ trug. Es galt zu klären, ob es sich um Hartmann und Ernst beim Ausspähen der Fluchtwege gehandelt hat. Von den Verteidigern von Hartmann sollte zum einen der Beweiswert heruntergespielt werden, da die Aussage recht spät gemacht worden sei; zu einem Zeitpunkt, an dem es schon einige Einlassungen von Ernst gegeben habe. Zum anderen sei der dort benannte Größenunterschied zwischen Ernst und Hartmann nicht so „nennenswert“, wie vom Zeugen angegeben. Oberstaatsanwalt Killmer schlug vor, dass sich beide im Saal neben einander stellen könnten. Dies wurde von der Verteidigung Hartmann als „Teileinlassung“ benannt und abgelehnt. Stattdessen wurde von RA Clemens ein Bild von exif-recherche.org aus dem Internet als Beweis eingebracht, in dem beide Angeklagten auf einer AfD-Demonstration in Chemnitz am 1.9.2018 zu sehen sind, um den Größenunterschied der beiden festzustellen. In einer weiteren Erklärung wurde weiterhin die Kompetenz des Waffensachverständigen vom LKA angezweifelt. Der Sachverständige hatte das Maschinengewehr, das Hartmann als Deko-Waffe besaß, in drei Stunden wieder zu einer funktionsfähigen Waffe zurückgebaut.

Als Christoph Lübcke erneut in den Zeug*innenstand trat, bestätigte er nochmals, dass auch die Kappe („Batschkapp“), die Markus Hartmann auf dem Foto von Chemnitz trug, die gleiche sei, wie sie eine der beiden Personen trug, die er an seinem Haus gesehen hatte.

Im Anschluss wurden Ernst 14 Bilder vorgehalten, die Beamte von verschiedenen Häusern in Wolfhagen-Istha gemacht haben; unter anderen auch vom Haus Christoph Lübckes. Dies sollte die Erzählung von Ernst glaubhaft machen, in der er schilderte, dass er und Hartmann am Haus von Christoph Lübcke vorbei gelaufen waren. Christoph Lübcke hatte am 36. Prozesstag bestätigt, zwei Personen im von Ernst beschriebenen Zeitraum gesehen zu haben, die ihn und seinen Vater mit den Augen „fixierten“.

Zunächst sollte Ernst das Haus benennen, das er für das Haus von Christoph Lübcke hielt, und im Anschluss auf einer Übersichtskarte von Istha zeigen, wo genau sich das Haus befindet. Ernst erkannte das Haus auf den Fotos und konnte die Lage bestimmen.

Die Befragung von Ernst durch den Senat bezog sich auf einige widersprüchliche Angaben, die Ernst in seinen Geständnissen gemacht hatte. Zunächst wurde er über seinen angeblichen Ausstieg aus der rechten Szene befragt. Er behauptete, nach dem Angriff auf die 1. Mai Demo in Dortmund 2009 aus der Szene ausgestiegen zu sein. Laut Ernst sei er erst durch Hartmann, im Jahr 2014, wieder „repolitisiert“ worden. Durch die in den Prozess eingeführten Bilder einer von Thorsten Heise organisierten Sonnenwendfeier im Jahr 2011, an der Ernst, zusammen mit anderen Neonazis aus der Region, teilgenommen hatte, relativierten sich diese Angaben. Auch wurde ihm vom Senat vorgehalten, dass er bereits im Jahr 2011 mit Hartmann sowohl bei der Firma Hübner, als auch im Schützenverein Kontakt hatte. Ernst gab an, dass er und Hartmann im Schützenverein Grebenstein bei Kassel illegalerweise mit Langwaffen geschossen hatten. Im Schützenverein sei man da „locker“ gewesen, wenn Schießtrainings nicht in die „Schießkladde“ eingetragen wurden. Widersprüchlich waren auch Ernsts Angaben über die Langwaffe „K98“, die auf Hartmanns Waffenbesitzkarte geführt wurde, sich aber zeitweise bei Ernst befunden haben soll.

Zu seinen Verbindungen in die militante Neonazi-Szene sagte Ernst insgesamt kaum etwas. An diesem Prozesstag gab er auf Nachfrage des Nebenklageanwaltes Hoffmann an, Mike S. aus Kassel, mit dem er zusammen „AntiAntifa-Arbeit“ gemacht hatte und in der Kameradschaft „Freier Widerstand Kassel“ war, habe ihn angerufen, um ihn zu fragen, ob er zur besagten Sonnenwendfeier von Thorsten Heise fahren wolle. Ernst gab zu seinem Kontakt zu Heise weiter an, dass er im Jahr 2003 von ihm gehört hätte. Zum „Trauermarsch“ von Dresden im Jahr 2009 sei er gemeinsam mit Heise im Auto gefahren. Auch hätte er bei Heise eine „Hausverteidigung“ gemacht; das sei aber alles vor 2009 gewesen. Hierbei sollte Heises Haus vor einem vermeintlichen Angriff von Antifaschist*innen geschützt werden.

Der Prozesstag bei NSU-Watch Hessen