Am 19. Februar 2020 wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov in Hanau ermordet. Am ersten Jahrestag des rassistischen Terroranschlags kamen in ganz Deutschland Tausende Menschen zusammen, um zu gedenken, um Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen zu fordern. Und um zu zeigen: Hanau ist überall!
Talya Feldman ist Künstlerin und Aktivistin. Sie überlebte den antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle und war Nebenklägerin im Prozess gegen den Attentäter von Halle. Wir veröffentlichen ihre Rede zum ersten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau. Oben im englischen Original, unten in der deutschen Übersetzung.
„So much has happened in one year.
In this last year, with the trial against the perpetrator of the attack in Halle, we witnessed a justice system that refused to hold accountable the racist and anti-Semitic systems in place that allow for these attacks to happen. We witnessed my fellow co-plaintiffs, İsmet Tekin and Aftax I. not be recognized as victims of terror. We witnessed no accountability, no consequence, no justice.
With the trial against the murderer of Walter Lübcke, we witnessed a justice system that refused to recognize the history and networks of violence and hate that have existed within our society for decades. We witnessed a young man, Ahmed I., receive no recognition for the racist crime committed against him. We witnessed no accountability, no consequence, no justice.
With the trial against the attacker of a young Jewish student in front of a synagogue in Hamburg, we are witnessing a justice system that refuses to name it for what it is — an anti-Semitic attack. We are witnessing no accountability, no consequence, no justice.
Today we mark one year since the attack in Hanau. We mark one year without Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan, Mercedes, Vili Viorel, Said Nesar, Hamza, and Sedat. One year without accountability, without consequence, and without justice.
The violence we have witnessed carries a weight on our hearts, but also on our communities and on our country. And yet we, survivors and affected from Halle, have seen our brothers and sisters in Hanau — rise so far above it all.
We have seen them speak strongly for justice and truth to all who would hear — and to all who would not hear. We have seen them come together in their community and also reach out towards us and other communities impacted by hate and terror in this country. We have seen them stand with us at our festivals of resilience, at our commemorations, and at our court trials — in Frankfurt, in Magdeburg, in Hamburg. We have seen their acts of solidarity and of bravery on social media, in demonstrations, and in personal messages.
Their resistance has given us the courage and the strength to stand with them and say: We are here. We are staying here. And we will continue — unafraid.
To our family in Hanau we say: We see you, and we hear you. We believe in you, and we fight with you. We cry with you, and we remember with you. We are with you marking this difficult moment, one year. And we will be with you every year.“
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„Es ist so viel passiert in einem Jahr.
In diesem letzten Jahr, mit dem Prozess gegen den Attentäter von Halle, wurden wir Zeug:innen einer Justiz, die sich weigerte, die rassistischen und antisemitischen Systeme zur Rechenschaft zu ziehen, die solche Anschläge ermöglichen. Wir haben erlebt, wie die Nebenkläger İsmet Tekin und Aftax I. nicht als Opfer des Terrors anerkannt wurden. Wir haben erlebt, dass es keine Verantwortungsübernahme, keine Konsequenzen und keine Gerechtigkeit gab.
Mit dem Prozess gegen den Mörder von Walter Lübcke wurden wir Zeug:innen einer Justiz, die sich weigerte, die Kontinuität und die Netzwerke von Gewalt und Hass anzuerkennen, die seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft existieren. Wir wurden Zeug:innen, wie ein junger Mann, Ahmed I., keine Anerkennung für das an ihm begangene rassistische Verbrechen erhielt. Wir wurden Zeug:innen, dass es keine Verantwortungsübernahme, keine Konsequenzen und keine Gerechtigkeit gab.
Mit dem Prozess gegen den Mann, der einen jungen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg brutal angegriffen hatte, wurden wir Zeug:innen einer Justiz, die sich weigert, die Tat als das zu benennen, was sie ist – ein antisemitischer Angriff. Wir erlebten keine Verantwortlichkeit, keine Konsequenz, keine Gerechtigkeit.
Heute ist es ein Jahr her, dass der Anschlag in Hanau verübt wurde. Ein Jahr ohne Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan, Mercedes, Vili Viorel, Said Nesar, Hamza und Sedat. Ein Jahr ohne Verantwortlichkeit, ohne Konsequenzen und ohne Gerechtigkeit.
Die Gewalt, die wir miterlebt haben, lastet schwer auf unseren Herzen, aber auch auf unseren Gemeinden und unserem Land. Und doch haben wir, Überlebende und Betroffene von Halle, unsere Brüder und Schwestern in Hanau gesehen – wie sie über all das hinausgewachsen sind.
Wir haben gesehen, wie sie mit Nachdruck für Gerechtigkeit und Wahrheit zu allen sprechen, die hören wollen – und zu allen, die nicht hören wollen. Wir haben gesehen, wie sie in ihrer community zusammen kamen und auch uns und anderen communities, die von Hass und Terror in diesem Land betroffen sind, viele Hände reichten. Wir haben gesehen, wie sie zu unserem Festival of Resilience gekommen sind und zu unseren Gedenkfeiern und Gerichtsprozessen gekommen sind in Frankfurt, in Magdeburg, in Hamburg. Wir haben ihre Solidaritätsbekundungen und ihren Mut in den sozialen Medien, auf Demonstrationen und in persönlichen Botschaften erlebt.
Ihr Widerstand hat uns den Mut und die Kraft gegeben, an ihrer Seite zu stehen und zu sagen: Wir sind hier. Wir werden hier bleiben. Und wir werden weitermachen – ohne Angst.
Zu unserer Familie in Hanau sagen wir: Wir sehen euch, und wir hören euch. Wir glauben an euch, und wir kämpfen mit euch. Wir weinen mit euch, und wir erinnern uns mit euch. Wir sind mit euch in diesem schwierigen Moment, in diesem einen Jahr. Und wir werden jedes Jahr bei euch sein.“