41. Prozesstag, 12. Januar 2021 – Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I.

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An diesem Prozesstag fanden beim Prozess zum Mord an Walter Lübcke und zum Angriff auf Ahmed I. die Plädoyers der Nebenklage statt. Zunächst sprach RA Prof. Dr. Matt für die Nebenklage Lübcke. Er betonte die historische Dimension des Mordes an Walter Lübcke und rief das Gericht auf, dieser gerecht zu werden. Matt forderte, den Angeklagten Markus Hartmann wegen Mittäterschaft zu verurteilen, sowie weitere Aufklärung des Tathergangs u.a. anhand von Schmauchspuren. Danach sprach RA Alexander Hoffmann von der Nebenklage von Ahmed I. Er kritisierte den institutionellen Rassismus, der in den Ermittlungen nach dem Angriff auf I. zum Tragen kam. Hoffmann benannte die Kontinuität des rechten Handelns und Denkens in der Biografie des Angeklagten Stephan Ernst und wies dessen vermeintliche Abkehr davon zurück: „Ernst ist überzeugter Neonazi und Rassist.“ Hoffmann kritisierte auch die Ermittlungen nach dem Mord an Lübcke als unzureichend. Diese seien nach dem Geständnis von Ernst eingestellt worden: „Ein Einzeltäter ist leichter zu ertragen“, dann müssten sich Gesellschaft und Gericht keine Fragen zu Strukturen stellen. Zuletzt sprach Ahmed I. selbst: „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt“. Dafür sei eine Verurteilung von Ernst wegen des Angriffs auf ihn zentral.

RA Prof. Dr. Matt begann das Plädoyer der Nebenklage Lübcke mit den Zielen, die sie sich dafür gesetzt hatten. Von Anfang an habe die Aufklärung des gesamten Sachverhaltes im Vordergrund gestanden, zur Mordtat, den Beweggründen, zur Vorbereitung. Für die Familie von Walter Lübcke stehe die Aufklärung der letzten Sekunden ihres Angehörigen emotional im Vordergrund: „Was passierte, bevor ihn der Schuss traf?“ Dazu gehöre auch die zentrale Frage, wann Walter Lübcke berührt worden sei.

Der Schritt in die Nebenklage bedeute für die Familie eine symbolische Unterstützung des verstorbenen Walter Lübcke. Das habe ihnen Kraft gegeben, den Prozess und die direkte Konfrontation mit den Angeklagten durchzustehen. Die Familie habe das Gefühl, das sei sie ihm schuldig. Die Nebenklage symbolisiere auch ein gesellschaftliches Engagement; sie trete für die gleichen Werte ein, für die Walter Lübcke beruflich und privat gestanden habe. Mit Walter Lübcke sei ein Repräsentant des Rechtsstaats ermordet worden. Er sei dort tätig gewesen, wo Politik gestaltet wird und sei dort gegen Rechtsextremismus aufgetreten. „Die Bundesanwaltschaft tritt für einen wehrhaften Staat ein, wir für eine wehrhafte Zivilgesellschaft.“

RA Matt lobte ausführlich das Plädoyer der Bundesanwaltschaft und dankte für deren historische, gesellschaftliche und politische Einordnung. Er wandte sich der Arbeit des Senats zu und lobte diese ebenfalls. Man sei vielleicht nicht mit allen Äußerungen immer einverstanden gewesen, aber der Senat komme zu Ergebnissen und habe „die Fähigkeit gezeigt, sich neu zu positionieren“. Das sei psychologisch nicht einfach, aber richtig und wichtig. Beeindruckt sei er auch von den Befragungen durch den Senat gewesen. Sie hätten in Bezug auf den Angeklagten Ernst weit über dessen schriftliche Einlassung hinaus Fakten aufgedeckt, die für die Urteilsfindung wichtig seien. Ab Oktober seien eine erstaunliche Zahl der Aussagen von Ernst durch Indizien bestätigt worden. Matt sprach von einem „echten Erfolg“, einem „historischen Verdienst“. An diese Argumentation anknüpfend, forderte RA Matt den Senat wiederholt im Laufe seines Plädoyers auf, diesen Erfolg nicht damit zunichte zu machen, Ernsts Angaben als unglaubwürdig abzutun. Der Senat solle dementsprechend den Angeklagten Hartmann nicht freisprechen, sondern ihn als Mittäter verurteilen: „Das ist doch unser gemeinsamer Aufklärungserfolg!“ Dafür sprächen neben den Angaben von Ernst die DNA-Spur am Hemd von Walter Lübcke, das zweite Fahrzeug, das die Ehefrau von Stephan Ernst am Tatabend hörte und die Löschung der Threema-Chats durch beide Angeklagte. Matt bedauerte jedoch, dass weder Senat noch Bundesanwaltschaft eine nachträgliche Untersuchung der asservierten Gartenmöbel von der Terrasse der Lübckes auf Schmauchspuren veranlasst hätten. Diese hätte die Aussagen von Ernst bestätigen können.

Matt wandte sich vertiefend der Rolle von Hartmann beim Mord an Walter Lübcke zu und betonte: „Ohne den Angeklagten Hartmann hätte es den Mord an Walter Lübcke nicht gegeben.“ Er sehe keine Schwächen in der Argumentation der Bundesanwaltschaft gegen Hartmann, die diesen unter anderem wegen „psychischer Beihilfe“ angeklagt hatte. Die Nebenklage Lübcke argumentierte auch an diesem Tag wieder, dass Hartmann darüber hinausgehend als Mittäter verurteilt werden müsse. Die Entlassung Hartmanns aus der Untersuchungshaft am 1. Oktober 2020 sei für die Nebenklage Lübcke „ein solcher Hammer“ gewesen; sie säßen Hartmann immer gegenüber, sähen sein Verhalten und sein fast ständiges Grinsen. Seit diesem 1. Oktober habe der Prozess allerdings viele Beweise und Beweismittel aufgedeckt, die von Bedeutung seien, das müsse der Senat berücksichtigen. Matt betonte erneut, dass der Senat durch seine Befragung von Ernst die Wahrheit ans Licht gebracht habe. Dessen Aussage sei nicht konstant, aber eine konstante Aussage vom ersten Geständnis an wäre eine falsche gewesen. Matt würdigte dann alle Einlassungen Ernsts noch einmal einzeln. Dabei ging er auch auf die Berührung von Walter Lübcke durch Stephan Ernst ein, die nur zu der Version, in der Hartmann mit am Tatort war, passe. Wäre Ernst allein vor Ort gewesen und hätte direkt geschossen, wäre er nicht noch einmal zu Lübcke gegangen, sondern wäre direkt geflohen. Dementsprechend habe die Berührung vor dem Mord stattgefunden und das sei nur möglich, wenn dem Mord die von Ernst beschriebene Streitsituation zwischen Hartmann, ihm und Lübcke vorangegangen sei, in der Ernst Lübcke zurück in den Stuhl drückte. Matt betonte, die Nebenklage Lübcke glaube, Ernst habe die Wahrheit gesagt und sein Versprechen die Wahrheit zu sagen, das er im August gemacht habe, eingelöst.

Bevor sich RA Matt einer detaillierteren Beweiswürdigung zuwandte, ordnete er den Prozess und den Mord an Walter Lübcke gesellschaftlich ein. Dieser sei für den Rechtsstaat eingetreten, aber man frage sich: „Wie steht es um den Rechtsstaat?“. Wenn man Hasspolitik, die Manipulation der öffentlichen Meinung und Hassposts im Internet ansehe, den offenen Rechtsextremismus und die Agitation, da frage er sich, wo der Staat und der Verfassungsschutz seien. „Da dachte man nach den NSU-Morden, der Staat sei aufgewacht!“ Aber nach der Veranstaltung in Lohfelden habe es Hassposts gegen Walter Lübcke gegeben – und irgendwie habe es keiner gemerkt. „Wir wissen: legale Waffen, illegale Waffen: Kein Problem!“ Hartmann habe 2014 seine Waffenkarte bekommen und der Verfassungsschutz habe damit kein Problem gehabt. So hätten beide Angeklagten ganz unauffällig trainieren können. Beide seien auf rechtsextremen Demonstrationen gewesen, keiner habe es mitbekommen, weil man nicht hinsehe. Was im Internet passierte, sei bis zum Mord nicht genau beobachtet worden. Wenn man sich die Reichsbürger, Combat18, Terrorkonzepte wie den „Führerlosen Widerstand“ ansehe oder die Nordkreuz-Prepper, die sich auf „Tag X“ vorbereiten, dann sei wichtig, dass Politik, Gesellschaft und Staat Verantwortung übernehmen. Die Verantwortung für den Mord an Walter Lübcke trügen alle, die ihn möglich gemacht haben, indem sie ihn nicht verhinderten. Er sehe ein Komplettversagen der Verfassungsschutz-Behörden bezüglich der Angeklagten, aber das sei nicht Teil des Prozesses.

Markus Hartmann habe das Video der Veranstaltung in Lohfelden ins Netz gestellt, was der „historische Auslöser“ für den Mord an Walter Lübcke gewesen sei. Hartmann habe es in dieser verkürzten Weise ins Netz gestellt, um die Öffentlichkeit zu manipulieren. Die Reaktion habe ihm recht gegeben. Es spreche für sich, dass es auch von Erika Steinbach geteilt worden sei: „Das ist der Nährboden für diese Verbrechen, alle Leute in dieser politischen Szenerie machen sich mitschuldig. Was macht der Verfassungsschutz bei solchen Gelegenheiten? Man versteht es nicht.“ Nie wieder dürfe der Staat auf dem rechten Auge blind oder naiv agieren, er müsse wehrhaft sein und sich bewähren, „ganz wie Walter Lübcke es immer vertreten hat“. Matt ging auch auf die AfD-Stammtische, an denen Ernst teilnahm, ein. Der Prozess habe gezeigt, dass er dort verstanden worden sei. Auch sei es unter seinen Kollegen normal gewesen, rechtsextreme Publikationen zu verteilen: „Das ist ein gesellschaftliches Umfeld, in dem solche Verbrechen möglich werden.“ Matt betonte zum Abschluss dieser Einordnung, dass sich die historische Dimension des Mordes an Walter Lübcke auch in den Rechtsfolgen ausdrücken müsse.

Matt ging dann immer präziser auf die von der Nebenklage Lübcke angenommene Mittäterschaft von Hartmann ein. Er hob die Waffenbeschaffungen und -übungen und den gemeinsamen Besuch in Istha hervor. Diese seien als Tatvorbereitung und Tatortausspähung zu werten: „Was braucht man denn noch, um nachzuweisen, dass jemand das gewollt hat, was hier passiert ist?“ Auch thematisierte er mehrfach eine mögliche alternative Schützenposition, die die Aussage von Ernst bestätige, dazu verlas er am Ende des Plädoyers mehrere Gegenvorstellungen zu den Senatsbeschlüssen, dem nicht nachzugehen. RA Matt beantragte zum Abschluss des Plädoyers, Stephan Ernst zu einer lebenslangen Haft mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu verurteilen. Das gleiche gelte für Hartmann.

Dann folgte das Plädoyer der Nebenklage von Ahmed I. Zunächst begann RA Alexander Hoffmann mit seinen Ausführungen. Er bedankte sich zunächst bei der Bundesanwaltschaft. Diese hätte seinem Mandanten gezeigt, dass hier Vertreter des Bundesanwalts tätig seien, die ein wirkliches Interesse an der Aufklärung des Mordversuches an ihm haben. „Herr I. wurde am Abend des 6. Januar 2016 um kurz vor 22:00 Uhr von hinten mit einem Messer in den Rücken gestoßen. Der Stich verletzte Nerven, verfehlte aber lebenswichtige Organe knapp.“ Noch im Krankenhaus sei I. mehrfach vernommen worden, ohne Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand. Die erste Zeugenbefragung erfolgte kurz nachdem I. aus der Narkose aufgewacht war, wozu aber kein Vermerk gefertigt worden sei. Der Vernehmungsbeamte habe noch im Prozess darauf beharrt, dass die Zeugenvernehmung völlig unproblematisch abgelaufen sei: „Wir können ausschließen, dass diese Schilderung zutrifft.“

Hoffmann sagte, er denke, dass sich die Frage nach dem Warum dieser Vorgehensweise aus den späteren Ermittlungen ergebe. Selbst im Jahr 2020 sei Herr I., wenn er befragt werden sollte, „einfach ohne schriftliche Ladung oder Vorwarnung zu Hause abgeholt“ worden. „Ermittlungen, in denen der richtige Name meines Mandanten niemanden interessierte, in denen er in der Erinnerung der Ermittlungsbeamten bis heute schlicht mit seinem Vornamen verankert ist. Ein Geflüchteter, der parieren soll, der keine Zeugenvorladung braucht, kommen und gehen soll, wie es für die Beamten am bequemsten ist. Ein Geflüchteter, der Ärger machte, durch sein späteres Beharren, hier müsse ein rassistisches Tatmotiv vorliegen, sein Beharren dass er sich in Kassel nicht mehr sicher fühlt und wegziehen will und die Öffentlichkeitsarbeit, die er gemeinsam mit ‚response. Beratung für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‘, machte.“ Hoffmann fragte, ob Verständnis und Empathie hier zu viel verlangt gewesen wären. Stattdessen sei I. Misstrauen entgegengebracht worden. Auch hier schloss Hoffmann eine Frage nach dem Warum an, und beantwortete sie mit institutionellen Rassismus, der sich aus den jahrzehntelang eingeübten Arbeitsabläufen, den Täter- und Opferbildern, wie sie in Polizeibehörden, in der Ausbildung und in der Praxis verankert seien, den regelmäßig zugrundegelegten Tathypothesen und ähnlichen, die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich prägenden Elementen, ergebe.

Hoffmann führte weiterhin aus: „Und nachdem die Anklageerhebung Herrn I. zum ersten Mal seit der Tat das Gefühl gab, die Aufklärung des versuchten Mordes gegen ihn habe doch ein Gewicht, sei jedenfalls der Bundesanwaltschaft wichtig, erfolgte hier im Gerichtssaal wieder ein Schritt zurück.“ Die Vernehmung seines Mandanten sei für ihn „einzigartig“ gewesen. Den Wahrnehmungen von I. komme für das Urteil keine besondere Bedeutung zu, da er von hinten angegriffen wurde. „Umso erstaunlicher war es dann, dass der Vorsitzende, aber auch andere Mitglieder des Senats nun in der Vernehmung Herrn I. nicht einmal die Gelegenheit zu einer umfassenden eigenen Darstellung des Geschehens gaben, sondern stattdessen ausschließlich kleinteilig Details erfragten. Als der Zeuge I. nicht reagierte wie offensichtlich erwartet, unterwürfig, dankbar, sondern ‚aufsässig‘, zornig, kippte die Stimmung des Senats gegen ihn.“ Auch eine spätere, für ihn nicht nachvollziehbare Einschätzung des Senats, folge offensichtlich solchen Vorurteilen. Damit war die Einschätzung gemeint, das Auftauchen einer Quittung über ein Messer als Indiz dafür zu nehmen, dass es sich bei dem im Haus des Angeklagten Ernst gefundenen Messers mit DNA-Anhaftungen, die erhebliche Übereinstimmungen zu den DNA von I. aufweisen, um ein Messer handelt, das erst nach dem Mordversuch gekauft wurde.

Hoffmann betonte, dass Ernst in Bezug auf den Angriff auf Ahmed I. praktisch ein Geständnis abgelegt habe. Bei seiner Vernehmung vom 25. Juni 2019 habe er „Schlüsselerlebnisse“ geschildert. Eines davon sei die sogenannte „Silvesternacht in Köln“ gewesen, nach der er „außer sich“ gewesen sei. „Dabei habe er sich aufgrund der Geschehnisse in Köln in seinen bereits zu Zeiten der Mitgliedschaft in der Kasseler Kameradschaftsszene vertretenen Ansichten bestätigt gefühlt. Diese Ansichten umfassen den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Interessen, den Gebrauch massivster Gewalt gegen Nichtdeutsche, aufgrund rassistischer Einstellungen.“ Ernst habe dann geschildert, dass er Wahlplakate abgerissen und eine Person rassistisch angeschrien habe. „Der Angeklagte Ernst hat mit dieser Einlassung einen Angriff auf einen Nichtdeutschen aus rassistischen Gründen am 6.1.2016 zugegeben.“ Ernst habe sich offensichtlich seitdem immer wieder mit der Tat gegen seinen Mandanten auseinandergesetzt, so Hoffmann weiter, und habe dabei einen Drang entfaltet, anderen von dieser Tat zu erzählen. Allerdings so abgewandelt, dass dadurch keine völlige Selbstoffenbarung als Täter bewirkt wurde. Denn am 6. Januar 2016 sei es nicht zur Zerstörung von zahlreichen Wahlplakaten gekommen, „wohl aber zu der Messerattacke auf Herrn I.“ RA Hoffmann sagte, im Übrigen entspreche vor dem Hintergrund der zurückliegenden Taten von Ernst eine Messerattacke auf einen Geflüchteten viel eher den in der Vergangenheit vom Angeklagten Ernst begangenen Handlungen, „die seinem Ausmaß an Hass und Zerstörungswillen gegenüber vermeintlichen politischen Gegnern viel eher gerecht wurde als eine Sachbeschädigung“.

Hoffmann führte außerdem aus: „Der Angeklagte Ernst ist ein Rassist und überzeugter Neonazi.“ Er sei angetrieben von einer zutiefst biologistisch-rassistischen Ideologie. Die Behauptung des Angeklagten, er sei nach seiner letzten Verurteilung aus der Naziszene ausgestiegen, sei eine „wiederkehrende Ausrede“, die er zum ersten Mal in seiner langen Geschichte mit Gerichten gegenüber dem Amtsgericht Wiesbaden in der Verhandlung vom 8. Mai 1990 vorgebracht hatte. „Die Strategie nach einer Straftat Reue zu heucheln und zu behaupten, er habe sich von seiner Ideologie getrennt, ist offensichtlich ein Teil des Charakters des Angeklagten geworden und von Gerichten immer wieder akzeptiert worden.“ In der Hauptverhandlung habe Ernst unter Tränen erzählt, er habe seinen Kindern ans Herz gelegt, sich nicht an den von ihm vorgelebten politischen Idealen zu orientieren. „Auch diese rührselige Geschichte steht in krassem Widerspruch zur Realität.“ Seinen Sohn habe er über Jahre zu Kampfsport, Bogenschießen und zu Veranstaltungen der AfD mitgenommen, sie hätten zusammen AfD-Werbung verbreitet. In einem WhatsApp-Chat erkläre sich der Angeklagte bereit, seinem Sohn eine Datei mit Propaganda des antisemitischen Neonazis Mahler zukommen zu lassen.

Hoffmann beschrieb dann eine weitere Tat des Angeklagten Ernst, einen versuchten Mord mit einem Messer 1992, die wie eine „Blaupause“ für den Angriff auf Ahmed I. sei. In den im Selbstleseverfahren eingeführten Dokumenten von einem verschlüsselten USB-Stick des Angeklagten Ernst hätten sich hunderte Seiten gesammelten Materials gefunden; darunter insbesondere zahlreiche Tipps und Tricks, wie Strafverfolgung abgewehrt und verhindert werden soll. Es hätten sich aber auch gesammelte Recherchen zu tatsächlichen oder vermeintlichen Antifaschist*innen und eine Ausforschung der Synagoge Kassel sowie ihrer Besucher gefunden. „Diese Ausforschungen, Recherchen und Aufzeichnungen lassen keinen anderen Schluss zu, als dass der Angeklagte Ernst, zum damaligen Zeitpunkt noch in Zusammenarbeit mit in Kameradschaften aktiven Nazis, Angriffe oder vielmehr Anschläge auf politische Gegner und Mitglieder der jüdischen Gemeinde Kassel bzw. Besucher der Synagoge vorbereitete.“ Hoffmann weiter: „Der Angeklagte Stephan Ernst ist seit Jahrzehnten ein militanter Rassist und Neonazi, der Gewalt, auch tödliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele befürwortet und einsetzt.“ Es habe aber tatsächlich eine Wandlung gegeben. Ernst habe sich von der Kameradschaftsszene abgewandt. Diese sei aber keine Abwendung von seiner biologistisch-rassistischen, gewaltbejahenden Ideologie gewesen. „Vielmehr hat der Angeklagte Ernst in der AfD und bei seinen Arbeitskollegen eine neue Umgebung gefunden, die politisch deutlich größere Erfolgschancen versprach, als die eher subkulturell geprägte Kameradschaftsszene.“ Er habe sich in Chemnitz in einer dynamischen Massenbewegung befunden, „die für ihn einen neuen Aufbruch darstellte“. Parallel dazu habe er auf seiner Arbeit eine Art „Betriebskampfgruppe“ gegründet, die für den rassistischen Endkampf Waffen sammelte und den Gebrauch der Waffen trainierte. „Dieses Verhalten als Abkehr von Rassismus und neonazistischer Ideologie zu begreifen, würde verkennen, dass es nur eine den aktuellen Ereignissen angepasste Weiterentwicklung seiner Ideologie ist.“

Hoffmann legte den Fokus dann auf den Ablauf des Prozesses. „Die Beweisaufnahme in diesem Verfahren wurde bewusst so geführt, dass zahlreiche Beweismittel, nämlich all diejenigen Beweismittel, die die jahrzehntelange Verbundenheit der Angeklagten mit der organisierten Naziszene belegen, im Selbstleseverfahren abgearbeitet wurden und damit der Öffentlichkeit entzogen sind. Damit führt das Gericht das fort, was die Ermittlungsbehörden begonnen haben, indem sie nach dem ersten Geständnis des Angeklagten Ernst im Wesentlichen die Ermittlungen eingestellt haben.“ Man habe einen Einzeltäter, vielleicht noch einen Mittäter. Das sei genug: „Ein Einzeltäter ist für die Gesellschaft leichter zu ertragen, als ein Täter, der, eingebettet in organisatorische Zusammenhänge, seine Tat vorher mit anderen diskutiert, andere Personen in seine Entscheidung einbezieht. Der Einzeltäter wird verurteilt, damit kann die Beschäftigung mit der Tat beendet werden. Die Gesellschaft und hier das Gericht müssen sich keine weiteren Fragen stellen, wie mit den Strukturen, in denen der Täter seine Tat diskutiert hat, aus denen heraus er Unterstützung erhalten hat, umzugehen ist.“ Dieser Wunsch, mit der Tat abzuschließen, dürfte für die Entscheidung des Gerichts, den Angeklagten Ernst für die Tat zum Nachteil seines Mandanten freizusprechen, wichtiger sein, als die tatsächliche Beweislage. Anders sei der Unwille des Senats, die Beweisaufnahme zu erweitern, nicht zu erklären.

„Wenn dieses Gericht seine Aufgabe ernst nimmt, wenn es die objektive Beweisaufnahme nüchtern würdigt, muss es den Angeklagten Ernst wegen versuchtem Mord an meinem Mandanten verurteilen. Der Nebenkläger I. wird mit einem Freispruch bezüglich des Mordversuches gegen ihn vom Gericht im Stich gelassen. Gerechtigkeit, eine Entschuldigung für den Umgang der Polizei mit ihm, die Aufklärung der Straftat gegen ihn, wird ihm verweigert.“ Hoffmann sagte, umso wichtiger werde es sein, dass Ahmed I. nunmehr direkte Unterstützung aus der Gesellschaft erhalte. „Unterstützung von denjenigen, die erkannt haben, dass rassistische Gewalt, rassistische Straftaten ihren Ursprung in der Mitte der Gesellschaft haben. Von denjenigen die erkannt haben, dass die bloße Aburteilung von Straftaten keine gesellschaftliche Wirkung hat, sondern die direkte Solidarität mit Opfern rassistischer Gewalt notwendig ist. Rassismus und nazistische Ideologie werden nicht durch Gerichtsurteile bekämpft. Diese Auseinandersetzung findet nicht im Gerichtssaal statt. Ich fordere daher alle Menschen auf, ihre Solidarität und Verbundenheit mit Betroffenen rassistischer Gewalt zu zeigen, und Herrn Ahmed I. weiterhin zu unterstützen.“

Anschließend sprach Ahmed I. noch einmal selbst. Er bedankte sich für die Empathie mit ihm und für die Solidarität von allen, die ihn unterstützen. I.: „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt“. Er lebe in einem Rechtsstaat und er hoffe, dass der Rechtsstaat tut, was er soll. Das Urteil sei ihm wichtig für seine Gerechtigkeit. Zum Abschluss sagte Ahmed I., er wolle auch seine Solidarität mit der Familie von Walter Lübcke zum Ausdruck bringen. Danach endete der Prozesstag.