Im Vorfeld der ersten Sitzung des „1. Untersuchungsausschusses (‚Neukölln‘)“ des Berliner Abgeordnetenhauses im neuen Jahr hatten Betroffene und Initiativen, darunter NSU-Watch, einen zweiten Offenen Brief veröffentlicht. Mit Bezug auf die in der 10. Sitzung anstehende Anhörung der Sonderermittler*innen zum Neukölln-Komplex, Herbert Diemer und Uta Leichsenring, formuliert der Offene Brief: „Derzeit werden letztlich nur Tatsachen zusammengetragen, die in der Zivilgesellschaft seit Jahren bekannt sind. Frau Leichsenring und Herr Dr. Diemer werden darüber hinaus lediglich ihren Bericht – der nach seinem Inhalt unvollständig bleiben musste – bestätigen. Worin liegt da ein Erkenntnisgewinn?“
Und tatsächlich bewegten sich Stellungnahmen und Befragung der beiden Kommissionsmitglieder – jedenfalls im öffentlichen Teil der Sitzung – vor allem im Bereich der bereits aus dem Bericht bekannten Fakten und Einschätzungen. Im Folgenden geben wir die Sitzung nicht streng chronologisch wieder, sondern fassen einige unseres Erachtens zentrale Punkte aus der Anhörung thematisch geordnet zusammen.
Die „Kommission Neukölln“
Der Berliner Senat – genauer: die Senatsverwaltungen für Justiz und für Inneres – hatte die „Kommission zur Überprüfung der bisherigen Ermittlungsmaßnahmen zur Aufklärung einer nach Sachlage rechtsmotivierten Straftatenserie in Neukölln“, kurz „Kommission Neukölln“, im Jahr 2020 eingesetzt. Federführend bei der Einsetzung war vermutlich die Senatsverwaltung für Inneres unter Andreas Geisel (SPD). Die Einsetzung verfolgte dabei wahrscheinlich auch das Ziel, dem wachsenden öffentlichen Druck im Zusammenhang mit dem Neukölln-Komplex zu begegnen und der Forderung nach Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gegenstand der von der Kommission zu prüfenden Ermittlungsmaßnahmen waren „zahlreiche seit 2014 in vergleichbarer Art und Weise begangene Straftaten im Berliner Bezirk Neukölln, die nach ihrer Angriffsrichtung eindeutig dem rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnen sind“. Ihren Abschlussbericht veröffentlichte die Kommission 2021 (PDF, externer Link).
Uta Leichsenring wurde 1991 erste Polizeipräsidentin in Eberswalde nach der Wende. Sie übernahm diese Aufgabe kurz nachdem in Eberswalde der als sogenannter Vertragsarbeiter aus Angola in die DDR gekommene Amadeu Antonio Kiowa von Neonazis aus rassistischen Motiven ins Koma geprügelt worden und am 6. Dezember 1990 an seinen schweren Verletzten verstorben war. Amadeu Antonio Kiowa ist eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach der Wiedervereinigung. Leichsenring wurde vor allem durch ihren auch zivilgesellschaftlichen Einsatz gegen die extreme Rechte und wiederholte Auseinandersetzungen mit dem langjährigen brandenburgischen Innenminister, dem mittlerweile verstorbenen CDU-Rechtsaußen Jörg Schönbohm, bekannt. In ihre Amtszeit in den 1990er-Jahren fiel allerdings auch der Skandal um massive rassistische Polizeigewalt gegen vietnamstämmige Zigarettenhändler*innen in Bernau bei Berlin, dessen Polizeidienststelle zu ihrem Präsidium gehörte. Leichsenring suspendierte die betreffenden Beamten schnell und handelte sich dafür Kritik aus Polizeiapparat und -gewerkschaften ein. 1998 wurden vier Beamte wegen der Taten zu Bewährungs- bzw. Geldstrafen verurteilt.
Dr. Herbert Diemer, Bundesanwalt a.D., wurde vor allem als Sitzungsvertreter des Generalbundesanwalts im Münchener NSU-Prozess bekannt. Dort machte er sich unter anderem deshalb einen Namen, weil seine Äußerungen bisweilen von ausgesucht polternder Genervtheit waren. So fuhr er eine Nebenklagevertreterin an: „Wir sind nicht das Jüngste Gericht!“ In seinem Plädoyer sprach er im Zusammenhang mit Bemühungen um weitere Aufklärung von „Fliegengesumme“.
Ihre Motivation, den Auftrag anzunehmen, beschreibt Leichsenring im Untersuchungsausschuss folgendermaßen: Sie sei an die Aufgabe„mit der Motivation herangegangen, dass ich mich in meinem Dienstleben als Polizeipräsidentin und damals schon bis heute für das Thema Bekämpfung des Rechtsextremismus auf verschiedenen Ebenen eingesetzt habe.“ Zu seiner persönlichen Motivation sagt Diemer, sie sei vergleichbar mit der von Leichsenring, bei ihm sei außerdem dazu gekommen, dass der Vorwurf in der Öffentlichkeit, die Sicherheitsbehörden hätten nicht vollständig aufgeklärt oder seien gar durchsetzt mit Rechtsextremisten, „unerträglich“ gewesen sei: „Das hat mich bestürzt, dieser Vorwurf. Das war der Reiz der Tätigkeit, zu schauen, ob das stimmt oder nicht, und was man besser machen könnte gegebenenfalls.“ Ähnliche Formulierungen zum Verständnis seiner Aufgabe fand Diemer im Laufe der Sitzung immer wieder.
Die beiden Kommissionsmitglieder lobten im Rahmen ihrer Anhörung durch den Untersuchungsausschuss mehrfach die Arbeitsbedingungen. Sie hätten auch alle Akten, die sie angefordert haben, bekommen, sowohl aus der Polizei und von der Staatsanwaltschaft als auch vom Verfassungsschutz. Eine Einschätzung, die dem Ausschussvorsitzenden Florian Dörstelmann (SPD) offensichtlich gefiel. Auf seine Frage, ob Diemer in der Rückschau sagen würde, dass dieses Format richtig war, sagt dieser, dass sie ja eine Kommission der Regierung gewesen seien und daher besseren Zugang zu Akten gehabt, der Untersuchungsausschuss habe es da schwerer. Dörstelmann: „Ja, ich finde, der Bericht spricht auch dafür, dass das Format sehr gut war.“
„Vertrauensgespräche“ mit Betroffenen
Auf eine Frage des SPD-Abgeordneten Özdemir berichtet Leichsenring dann, dass sie mit sieben Betroffenen gesprochen hätten, das habe sie „in der Hauptsache in die Hand genommen, natürlich hatten wir auch in Teilen eine gewisse Arbeitsteilung“. Sie habe erstmal Kontakt mit der MBR aufgenommen und dort ihre Telefonnummer hinterlassen, so dass Betroffene sich bei ihr melden konnten. Leichsenring: „Nach und nach haben sich Betroffene gemeldet und signalisiert, dass sie Interesse an einem Gespräch haben.“ Leichsenring sagt auf Frage, das eine sei die reine Aktenlage, das andere sei, was die Betroffenen erlebt haben: „Da haben wir schnell gemerkt, da gab es unterschiedliche Sichtweisen.“ Das was bei den Betroffenen angekommen ist, sei bei weitem nicht das gewesen, was „ermittlungsseitig“ eingeleitet worden sei. Es sei auch darum gegangen, über die unterschiedliche Wahrnehmungen bei Betroffenen und Behörden „wechselseitig zu informieren“. Sie habe den Betroffenen gegenüber klargestellt, dass sie nicht die Ermittler seien, aber herausfinden könnten, ob die Ermittlungen geführt wurden, „wie sie geführt werden müssen, nach den Regeln der Kunst, wie man sagt“. Es sei bei den Gesprächen auch darum gegangen mitzubekommen, inwieweit die Betroffenen über Ermittlungsschritte informiert worden seien. Auf Frage Özdemirs, welche Erwartungen die Betroffenen hatten, antwortet Leichsenring: „Wie ich es wahrnehmen konnte, hatten sie die Erwartung, dass wir sicherlich Schwachstellen finden in den Ermittlungen.“
Im weiteren Verlauf sagt Diemer, einer der Aufträge sei gewesen, auch Vertrauen wiederherzustellen, deswegen hätten sie als eines der ersten Dinge mit Betroffenen gesprochen. Dabei seien einige Betroffene davon ausgegangen, dass die Ermittlungen nicht nachhaltig betrieben wurden, andere, dass die Behörden durchsetzt seien. Wiederholt sprechen die beiden Kommissionsmitglieder bei ihrer Anhörung von „Empfindungen“, die Betroffene ausgedrückt hätten, Diemer auch mal von „Befindlichkeiten“. Die Zeugin Claudia von Gélieu (3. Sitzung) hatte bei ihrer Befragung davon gesprochen, dass sie eine Liste mit Fragen gehabt habe, die aber im Bericht der Kommission nicht beantwortet worden seien. Leichsenring dazu: „An eine Liste mit Fragen kann ich mich nicht erinnern, muss ich deutlich sagen. Frau von Gélieu hatte einiges aufgeschrieben und ich habe sie gefragt, ob sie uns das zur Verfügung stellen kann, und das wollte sie nicht, aber sie hat es vorgelesen.“ Sie hätten, so Leichsenring, festgestellt, dass die von Betroffenen thematisierten vermeintlich fehlenden Umfeldermittlungen und Tatortarbeiten tatsächlich stattgefunden hätten. Leichsenring: „Für mich waren das Vertrauensgespräche in der Hauptsache, um auch erstens dem nachgehen zu können und natürlich auch wechselseitig zu vermitteln, was jeweils von den Betroffenen der Polizei vorgeworfen wird, aber natürlich auch umgekehrt auch den Betroffenen deutlich zu machen, was aber alles gemacht wurde im Rahmen der Ermittlungen.“
Grünen-Abgeordneter Schulze hält später vor, dass der Zeuge Ferat Koçak angegeben habe, Betroffenen seien Antworten versprochen worden, die sie aber nicht bekommen hätten. Leichsenring: „Hier sind wir auch wieder ein wenig Wahrnehmungsbereich bei solchen Gesprächen.“ Sie erinnere sich nicht, dass sie den Betroffenen versprochen hätten, dass sie ihnen gegenüber Fragen beantworten. Es sei wichtig gewesen, die Fragen zu erheben, „aber dass wir persönlich gesagt haben, wir beantworten Ihnen die Fragen, das war meiner Erinnerung nach nicht so.“
Aktenlage
Zum Vorgehen der Kommission fragt in einer späteren Fragerunde der Grünen-Abgeordnete Franco. Die beiden Kommissionsmitglieder erläutern, dass sie sich an dem Rahmen orientiert hätten, den sie vorgegeben bekommen haben. Leichsenring und Diemer haben sich beim Studium der vorliegenden Akten demnach insbesondere am Schlussbericht der BAO [= Besondere Aufbauorganisation] Fokus der Polizei orientiert, in dem sie keine Mängel und Unterlassungen hätten feststellen können. Die Unterlagen hätten sie digital bekommen und sich dann verständigt, wo es Diskrepanzen gibt, wo nachgearbeitet werden müsse. Parallel hätten sie in polizeilichen Datenbanken wie POLIKS recherchiert. Es seien auch Dinge nachgefordert worden. Etwa als eine Observation angeregt worden sei, es aber erst deutlich später zu solchen verdeckten Maßnahmen gekommen sei. Es sei dann die Frage gewesen, ob in diesem Zeitraum Straftaten hätten verhindert werden können, was nicht der Fall gewesen sei. Es sei, so Diemer, um die Frage gegangen: „Schlafen die oder sind sie sozusagen kollusiv“. Und dies sei ein gutes Beispiel dafür, dass es kein Fehlverhalten gegeben habe, außer dass es liegen geblieben sei, und auch keine Kollusion.
Die Vorwürfe fehlender Ermittlungsarbeit seitens der Betroffenen hätten sie, so zusammengefasst die Auffassung der Kommissionsmitglieder, in den Akten so nicht nachvollziehen können, es habe sich aus den Akten ergeben, dass „genau das gemacht wurden, was vermeintlich nicht gemacht wurde“ (Leichsenring). Sie könnten aber nicht nachvollziehen, ob das „im allerkürzesten Zeitraum“ gemacht worden sei. Insgesamt seien die Ermittlungen recht akribisch und aufwändig geführt worden, ob in den konkreten Fällen immer, könne aber „niemand beantworten“ (Diemer). Diemer sagt, sie hätten die Aufgabe gehabt in „objektivem Rahmen“ Mängel festzustellen. Das könne man nur machen, indem man sich die Vorgänge anschaut, aber ob bestimmte Beweismittel mitgenommen wurden, das lasse sich so nach so vielen Jahren nicht klären. Im Ausschuss hatte zum Beispiel die Betroffene Christiane Schott (7. Sitzung) davon berichtet, dass Steine, mit denen ihr Haus attackiert worden war, erst nach einiger Zeit und auf ihren massiven Druck hin von der Polizei als Beweismittel gesichert worden waren.
Özdemir fragt, wie hoch denn die Wahrscheinlichkeit sei, dass ein Beamter in die Akten eintrage, dass die Polizei von einer Zeugin oder einer Betroffenen zu einem Ermittlungsschritt gedrängt wurden: „Ist das nicht Ihre Aufgabe gewesen, das zumindest zu erfragen?“ Diemer: „Ich habe es nicht so begriffen. Ich habe mich als Teil einer Kommission begriffen, wo ein Fragenkatalog als Leitfaden war, und wir haben das nach bestem Wissen und Gewissen ergründet. Ich bin der Meinung, dass man das nicht so machen kann, dass man die Fragen hin und her trägt.“ Die Frage sei, ob die Ermittlungen nach den Regeln der Kunst erfolgt sind.
Auf Frage des Grünen-Abgeordnete Franco sagt Leichsenring, dass sie bei der Durchsicht der Akten schon stichprobenartig gemerkt hätten, dass in den Behörden kommuniziert wurde zu den einzelnen Themen. Wobei sich das gerade zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei und innerhalb der Polizei vor allem auf dem kurzen Weg machen lasse und auch gemacht worden sei. Anders sei das bei ausdrücklichen Nachermittlungen, das werde natürlich schriftlich festgehalten und finde sich in den Ermittlungsakten wieder. Franco: „Hat das funktioniert?“ Diemer: „Aus heutiger Sicht ist wirklich der Eindruck entstanden, dass die Ermittlungen grundsätzlich lege artis [= nach den Regeln der Kunst] durchgeführt wurden bei Polizei und auch bei Staatsanwaltschaft, bis auf die Ausnahmen, die wir angesprochen haben [siehe Abschnitte „Seriencharakter der Taten“ und „Parteilicher Staatsanwalt?“]. Der Grund, warum so wenig Täter ermittelt wurden, liegt bei Brandstiftungsgeschichten in der Natur der Sache.“ Diemer erklärt, wie die Brandstiftungen an Fahrzeugen durchgeführt wurden, und dass dabei kaum Spuren hinterlassen werden. Diemer: „Das war, glaube ich, die Hauptursache, dass die Täter nicht gefunden worden sind. Und das lag nicht an den Ermittlungen.“ Diemer: „Das einzige, was helfen würde, wäre Rundum-Observation, 24 Stunden.“
Der FDP-Abgeordnete Förster fragt später zu sogenannten Liegevermerken bei PMK [=Politisch Motivierte Kriminalität] Rechts. Solche Vermerke müssen geschrieben werden, wenn ein Verfahren über mehr als ein Monat nicht bearbeitet werden kann. Leichsenring sagt, sie seien auf Liegevermerke gestoßen, hätten sie aber nicht gezählt. Es sei bei den Liegevermerken aber immer plausibel gewesen, warum „zugewartet werden musste“. Im Weiteren sagen Diemer und Leichsenring, dass bei den Spuren im Wesentlichen alles richtig bearbeitet worden bzw. immer unverzüglich gehandelt worden sei.
Auf Frage des CDU-Abgeordneten Standfuß sagt Leichsenring, bei der Gefährderbearbeitung zur PMK Rechts hätten sie keine Mängel festgestellt. Sie habe nicht den Eindruck gewonnen, so Leichsenring, dass die Polizei bei dem großen Personenkreis, der in Frage kam beteiligt gewesen zu sein an den Taten, etwas außer Acht gelassen habe oder dass die Polizei dem Problem nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet habe.
Seriencharakter der Taten
Auf Fragen des CDU-Abgeordneten Standfuß erläutert Leichsenring, es gebe einerseits die Sichtweise der Betroffenen, die natürlich auch eine Sichtweise aus eigenem Erleben sei: „Und die Ermittlungen orientieren sich sowohl an Vorgaben wie ermittlungsseitig vorgegangen wird, am Straftatbestand und den jeweiligen Gegebenheiten, örtlichen und zeitlichen und ähnlichem. Dass das ein Unterschied in der Wahrnehmung ist, liegt sehr nah, Und wo aber zum Beispiel die Betroffenen, Geschädigten ziemlich früh auch wohl in ihren Vernehmungen darauf hingewiesen haben, dass es auch Seriencharakter haben könnte, nicht nur die Brandanschläge, sondern auch alle anderen Straftaten in diesem rechtsextremistischen Bereich.“ Von Seiten der Polizei, so Leichsenring, sei die Staatsanwaltschaft explizit darauf hingewiesen worden, „dass wir es mit einer Serie zu tun haben“. Die Einzeltaten seien jeweils in Zusammenhang gesetzt worden und es seien in einem Ermittlungsvorgang Verweise auf andere gemacht worden: „Etwas anders ist es gewesen nach der Abgabe zur Staatsanwaltschaft.“ Diemer pflichtet bei, dass der Seriencharakter bei der Polizei herausgearbeitet worden sei, bei der Staatsanwaltschaft aber sei „dem nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen worden“. Das sei den Betroffenen zu Recht aufgefallen. Die Staatsanwaltschaft habe eingestellt, aber bei der Polizei sei es weitergelaufen.
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft sei gewesen wie bei Massendelikten: „Man guckt, es wird das Nötigste ermittelt und dann wird eingestellt.“ Und wenn sich neue Erkenntnisse ergeben, nehme man die Ermittlungen wieder auf. Das sei aufgefallen und diese „Empfindung der Betroffenen“ sei der Auslöser gewesen, dass sie sich die Akten angeguckt und festgestellt hätten, dass „bei den Kollegen, das sind ja Kollegen, dass da noch Luft nach oben war“. Man könne Staatsschutzdelikte nicht wie Massendelikte behandeln, so Diemer. Als die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen übernahm, habe man „einen ganz anderen Zug bemerkt“. Standfuß fragt, ob es sich nur um Kommunikationsprobleme gehandelt habe oder ob es auch Versäumnisse gab. Diemer: „Das ist meines Erachtens schon ein Versäumnis, wenn ich ein Ermittlungsverfahren einstelle, wenn ich von der Polizei darauf hingewiesen werde, auch in sehr guten Schlussberichten und sehr guten Argumentationen, dass es eine Serie ist.“ Als Staatsanwalt habe er RAF-Verfahren gehabt gegen Täter, die unbekannt waren, „und das haben wir nie eingestellt“.
Schulze fragt gegen Ende der Anhörung noch einmal zum Thema Staatsanwaltschaft. Der Seriencharakter sei ja ersichtlich gewesen seit: „Was war aus Ihrer Sicht der Grund, dass die Staatsanwaltschaft keine Änderung vorgenommen hat, den Seriencharakter in den Ermittlungen und die Zusammenführung beim gleichen Dezernenten nicht gemacht hat, obwohl es die Polizei vorgeschlagen hat?“ Diemer antwortet, er denke, dass es durch Arbeitsbelastung dazu gekommen ist: „Das sind aber Spekulationen von mir. Aber Tatsache ist, dass es auf verschiedene Dezernate verteilt war.“
Linken-Abgeordneter Schrader fragt mit Bezug auf die von der Kommission in Bezug auf den Gegenstand der Untersuchung genannte Jahreszahl 2014: „Ist Ihnen bekannt, ob Ihnen Akten vorlagen zum Anschlag auf das Anton-Schmaus-Haus? Der war 2011, aber das Verfahren noch nicht eingestellt, damals, denke ich?“ Leichsenring: „Ich erinnere mich, dass ich darüber gesprochen habe mit einer Betroffenen und ich meine, ich hätte mir auch Einblick verschafft in die Unterlagen der Ermittlungen.“ Leichsenring weiter: „Ich habe aber auch noch zu einem anderen Vorfall Kenntnis durch Gespräch mit Betroffenen erlangt, zu einer Bedrohungslage und dazu hatte ich angefragt, ob es dazu Akten gibt. Das war abgeschlossen und dazu konnten mir keine Akten zur Verfügung gestellt werden.“ Bereits zuvor hatte Leichsenring auf Frage von Schulze, ob sie es für sinnvoll gehalten hätte, wenn die BAO Fokus früher vorne begonnen hätte, gesagt, sie persönlich habe das mitunter gedacht. Diemer hatte dazu gesagt: „Sinn der Kommission war ja der, Fehlverhalten aufzudecken, zur Versachlichung beizutragen und neues Vertrauen vielleicht zu schaffen. Wenn man festgestellt hätte, sie schlafen alle, dann hätten sie es vorher auch getan, wenn gut gearbeitet dann auch. Insofern hat das Sinn, die richtig schweren Straftaten haben 2014 angefangen.“
Personalmangel oder strukturelle Veränderungen?
Standfuß sagt, dass die Kommission ja eine neue personelle Zuteilung empfohlen habe, und fragt, ob aus Sicht der Kommission „im Allgemeinen mehr Personal erforderlich ist“. Den Gefallen, ihm einen talking point für den Wahlkampfklassiker ‚mehr Polizei‘ zu formulieren, taten ihm die Sonderermittler*innen aber nicht. Diemer: „Wir müssen unterscheiden zwischen einzelnen Behörden.“ Beim Verfassungsschutz, „also dem – Geheimdienst soll man nicht sagen – Nachrichtendienst“, wolle er das lieber im nicht-öffentlichen Teil beantworten. Bei der Staatsanwaltschaft seien sie beide sich einig, dass Personal aufgestockt werden müsste, und es gerade im Staatsschutzbereich der Justiz strukturelle Veränderungen geben sollte. Bei der Polizei sei das für ihn sehr schwer zu durchdringen gewesen, „ob das jetzt ein Personalproblem ist“. Wichtig sei anscheinend, dass zwischen dem LKA und den jeweiligen örtlichen Dienststellen bessere Kommunikation stattfinden sollte. Bei der BAO Fokus habe es einen „Personalaufwuchs“ gegeben. Diemer weiter: „Es ist immer so, dass wenn es keine Ermittlungserfolge gibt, immer zuerst gefragt wird, ob genug Personal eingesetzt worden ist. Hier ist nicht wenig Personal eingesetzt worden.“ Die entscheidende Frage sei, ob das Personal zielgenau eingesetzt wurde. Darauf sei reagiert worden mit Strukturveränderungen, die aber gerade was die Direktion, zu der Neukölln gehört, auch „etwas verwirrend“ gewesen seien und „auch nicht genug verstanden wurde von den Betroffenen“.
Auf eine spätere Frage von Standfuß, ob es bei den Behörden eine Strukturreform geben müsse oder nur einzelne Maßnahmen, sagt Diemer, bei der Staatsschutzabteilung sei eine strukturelle Änderung angezeigt. In Richtung Leichsenring fragt er dann: „Und bei der Polizei, haben wir da Strukturveränderungsbedarf gesehen?“ In Bezug auf das Verhältnis von Polizei und Justiz sagt Leichsenring, man könne bei der Justiz „mitunter einfach mal öfter zum Hörer greifen und auf diesem Wege mal nachfragen, wenn die Berichte von der Polizei kommen“. Bei der Polizei sei es „immer gut, wenn man eine personelle Kontinuität hat, um diesem Thema adäquat zu begegnen“.
Diemer: „Meines Erachtens – ich sage ‚meines Erachtens‘, weil ich das federführend gemacht habe –, also unseres Erachtens hat der Fehler nicht bei der Polizei gelegen. Es gab andere Fehler, möglicherweise Kommunikationsfehler oder was man hätte anders machen können, aber dass da jemand geschlafen oder zusammengearbeitet hätte, das konnten wir ja sowieso ausschließen. Den Eindruck hatten wir nie, nicht nur Eindruck, sondern das haben wir in den Akten gesehen““
Diemer kritisiert auf Frage die Verteilung des Themas auf fünf Dezernate bei der Staatsanwaltschaft und macht dabei die für den Chefankläger im NSU-Prozess erstaunliche Bemerkung, dass sich „politische Kriminalität“ durch „Vernetzung, durch Gruppierungen“ auszeichne. Es könne nicht damit genug sein, „dass sich die Dezernenten miteinander beim Kaffee unterhalten, sondern das muss formalisiert werden“. Als die Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) das Verfahren an sich gezogen habe, habe man dann gesehen, zu was das führe, nämlich dazu, dass Anklage beim Amtsgericht erhoben wurde. Das Amtsgericht habe es abgewiesen, weil die Erkenntnisse in anderen Verfahren angefallen seien und das nur verwendet werden dürfe, wenn die Straftaten eine bestimmte Schwere hätten. Die GenStA habe aber dagegen argumentiert, weil es um Serientaten und um Bedrohung gehe.
AfD-Chatgruppe
Linken-Abgeordneter Schrader fragt zu dem Polizisten Detlef M. Zum Hintergrund: Polizeihauptkommissar M. hatte nach dem islamistischen Anschlag am Breitscheidplatz 2016 polizeiliche Informationen in einer Chatgruppe mit Neuköllner AfD-Mitgliedern geteilt. Teil dieser Chatgruppe war auch Tilo P. Auf die Frage von Schrader im Untersuchungsausschuss antwortet Diemer, es habe eine Auswertung zum Beschuldigten P. gegeben und da sei man drauf gekommen, dass alle anderen in dem Chat nichts mit dem Neukölln-Komplex zu tun haben.
Der Hinweis auf die Chatgruppe sei, so Diemer später, dadurch hochgekommen, dass bei dem Beschuldigten „mit dem Nachnamen P.“ aus dem Neukölln-Komplex Beweismaterial in einem anderen Verfahren gefunden worden sei: „Aber das ist der einzige Bezug zum Neukölln-Komplex. Das ist ein Punkt, der immer wieder in der Presse und in politischen Kreisen genannt wird.“ Und da sei ihr Vorschlag zu schauen, ob alle Straftaten einzeln, so schlimm sie auch sind, zum Neukölln-Komplex gehören oder ob man differenzieren müsse.
Überwachung durch den Verfassungsschutz
Özdemir hält vor, dass im Bericht stehe, dass die Kommission 1,1 Prozent der Gesprächsmitschnitte im Rahmen von G10-Maßnahmen [Post- und Telekommunikationsüberwachungen durch die Geheimdienste nach Artikel 10 des Grundgesetzes] des VS habe prüfen können: „Und da hatten Sie fast schon neue Erkenntnisse gefunden. Überspitzt gesagt: Da kommen zwei Fremde, werten 1,1 Prozent des Rohmaterials aus und finden darin schon neue Erkenntnisse. Das rechne ich hoch und denke mir, wenn Sie das schon können bei 1,1 Prozent, was müsste rauskommen, wenn man 100 Prozent bearbeiten könnte. Wissen Sie, wie viele der Verfassungsschutz schon hat sichten können?“ Diemer: „Nein, das wissen wir nicht.“ Leichsenring: „Meines Erachtens ist ‚Erkenntnisse‘ nicht der richtige Terminus. Wir haben auf Relevanz geprüft im Material. Im ersten Teil des Verfahrens haben wir da für uns die Erkenntnis gewonnen, da könnte Relevantes drin sein, daraufhin haben wir dann dieses Rohmaterial nachgehört. Was aber dann wiederum nicht zu gravierenden Erkenntnissen geführt hat.“ Eine erneute Prüfung halte er nicht für sinnvoll, so Diemer auf Frage, wenn sie von „fremden Kommissionen“ komme, das müsse der VS selbst tun mit Auftrag von der Staatsanwaltschaft: „Wir haben nicht den Eindruck, dass keine eigene Motivation da war bei den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes, den Eindruck hatten wir nicht.“
Bezüglich einer Nachfrage, ob mögliche Täter im Vorfeld der Brandstiftung am Fahrzeug von Koçak in den Tagen vor der Tat observiert wurden, verweist Diemer darauf, dass die Behörden zu diesem Zeitpunkt bei den Observationen einen anderen Schwerpunkt gehabt hätten. Im Abschlussbericht der Kommission ist hierzu zu lesen: „Die Recherchen der Kommission ergaben, dass weder bei T. noch bei P. in der Nacht vor der Brandstiftung (31.01.2018) Observationsmaßnahmen stattfanden. Bis zu diesem Zeitpunkt fanden ausschließlich Observationsmaßnahmen von Personen aus dem Bereich PMK Islamismus statt, die höher priorisiert waren.“
Zur „Qualität der Zusammenarbeit“ zwischen Verfassungsschutz und Polizei heißt es von den Kommissionsmitgliedern, sie hätten aus den Gesprächen die Erkenntnis gewonnen, dass die Bereitschaft bei allen Seiten da sei und sie hätten auch festgestellt, dass es einen Austausch gegeben habe bei einer Straftat gegen eine politisch exponierte Person [gemeint ist vermutlich Ferat Koçak], aber zu spät. Es zeige sich eine Schwierigkeit, wie Erkenntnisse des VS aus G10-Maßnahmen geteilt werden können. Der VS habe sich nicht befugt gesehen, eine Übermittlung durchzuführen. Als das Auto gebrannt habe, sei eigentlich „sofort“ das Behördenzeugnis geteilt worden. Vorher sei die VS-Behörde rechtlich gebunden gewesen wegen des Trennungsgebotes [zwischen Geheimdienst und Polizei]. Diemer: „Es gibt strengste Gesetze, die unsere Freiheit sichern und dies gilt auch bei Straftaten, die von Rechtsextremisten begangen werden, genau so wie bei Linksextremisten.“ Hier habe es konkrete rechtliche Hindernisse gegeben.
Schrader sagt gegen Ende der Befragung der Kommissionsmitglieder, es seien vom VS G 10-Maßnahmen – vermutlich gerichtet gegen Thom – ausgesetzt worden wegen des NPD-Verbotsverfahrens. Ihm leuchte das nicht ein, so Schrader, weil das Bundesverfassungsgericht die Staatsferne in Bezug auf V-Leute in der Partei vorgegeben habe: „Eine G 10-Maßnahme ist doch eine passive Abschöpfung. Das will mir nicht in den Kopf.“ Diemer sagt, man müsse überprüfen, ob das zulässig und möglich ist, aber es sei ihnen nicht gesagt worden, warum es ausgesetzt worden ist: „Das können Sie im Untersuchungsausschuss durchaus ja mal fragen.“ Leichsenring sagt, sie seien da nicht tiefer eingestiegen. Schrader: „Aber gewundert haben Sie sich schon?“ Leichsenring: „Man wundert sich manchmal.“ Im Saal kommt Lachen auf.
Videobilder von Drohsprühereien
Schrader geht dann auf Videobilder ein, die Sebastian Thom gemeinsam mit einem anderen Neonazi [Oliver W.] beim Sprühen einer Drohung an eine Hauswand zeigen. Schrader: „Das tauchte in den Akten auf und ist aus unerklärlichen Gründen sehr lange zurückgehalten worden, bevor es Eingang gefunden hat, mittlerweile ist es Teil der Anklage. Ist Ihnen das bekannt geworden?“ Diemer: „Was soll der Thom da gemacht haben?“ Schrader erläutert noch einmal den Vorgang. Leichsenring sagt: „In unseren Untersuchungen ist es mir nicht bekannt geworden.“ Es könne aber sein, dass sie es mal gehört habe. Schrader: „Aber öffentlich war das noch nicht bekannt, als sie die Gespräche geführt haben?“ Diemer: „Also sagt mir jetzt nix.“ Leichsenring sagt, es gehörten ja auch Bedrohungen zum Neukölln-Komplex: „Hauswand sagt mir jetzt was.“ Im Raum, in dem die Sitzung für die Öffentlichkeit übertragen wird, kommt Gelächter auf.
Institutionalisierte Kommunikation mit „zivilgesellschaftlichen Akteuren“
Abgeordneter Özdemir sagt, er fasse zusammen „für die Menschen draußen, die zuhören“, was die Aufgabenbeschreibung der beiden Sonderermittler*innen nach deren Darstellung gewesen sei, nämlich das durchzuschauen, was an Akten da war, auf prozessuale Fehler; deswegen hätten die Sonderermittler*innen ja auch gesagt, dass „Akteure aus der Betroffenenperspektive ein anderes Empfinden“ gehabt hätten. Bei der Aufgabe des UA gehe es, so Özdemir weiter, auch um die Opferperspektive. Die Sonderermittler*innen hätten dem UA Arbeit abgenommen, weil sie den direkten Abgleich mit den Behörden gehabt hätten. Dann fragt er Leichsenring, was diese sich darunter vorstelle, wenn sie sage, dass die Behörden enger mit zivilgesellschaftlichen Akteuren kommunizieren müssten. Leichsenring antwortet, dass es um eine Institutionalisierung gehe, um regelmäßige Treffen, in denen die einzelnen Informationen aus verschiedenen Perspektiven kommen, insofern es ermittlungstaktisch geht. Ihre Anregung sei, in solche Treffen auch die Justiz einzubeziehen, nicht nur Polizei und Ämter. Es gehe auch um Prävention, auch darum, den Rechtsextremisten zu zeigen: „Hier gibt es eine konzertierte Aktion, wir nehmen das nicht hin.“
Standfuß fragt: „Ist Ihre Einschätzung, dass das ein Vertrauen wiederherstellen könnte und worauf basiert das, wenn es so wäre?“ Leichsenring: „Es ist schon meine Erfahrung, dass so etwas vertrauensbildend wirken kann. Hier im Komplex ist es so, dass sehr viel Vertrauen verloren gegangen ist. Ich würde nie sagen: Das Tischtuch ist zerschnitten. Es ist immer den Versuch wert. Ich sagte ja, ich könnte mir vorstellen bei einigen Akteuren, das sie bereit sind, bei anderen weniger. Aber es gehört auch zu dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, dass versucht wird eine gemeinsame Basis zu finden. Der kleinste gemeinsame Nenner ist schon mal, dass präventiv vorgegangen wird. Und gerade der Prävention dient so ein Gremium, weniger der Strafverfolgung.“ Diemer sagt, sie hätten von der Polizei die Information bekommen, dass im Rahmen des Möglichen die Bereitschaft zu gegenseitiger Kommunikation besteht, dass aber großer Frust bestehe, dass noch nicht aufgeklärt ist, und auf der anderen Seite über die Vorwürfe. Es dürfe keine „Interessenjustiz“ entstehen, so Diemer weiter, deswegen sei es bei der Justiz schwer, solche Möglichkeiten zu finden. Die Bereitschaft hätten sie bei der Polizeibehörde gefunden, „ob die Bereitschaft unbedingt auch bei den Geschädigten da ist, muss man feststellen.“
„Ostburger Eck“
Sichtlich stolz ist Diemer darauf, dass er Nachermittlungen zum Vorgang „Ostburger Eck“ angeregt hat. Am 16. März 2018 hatte der Verfassungsschutz eine laut Bericht der Kommission „den Verdächtigen der Neukölln-Straftaten nicht zugeordnete Person“ observiert und zur Neuköllner Kneipe „Ostburger Eck“ begleitet. Das „Ostburger Eck“ in Rudow wird von Antifaschist*innen als „rechtsoffener Hertha-Treff“ bezeichnet. (Externer Link) Die observierte Person wird im Kommissionsbericht auch als „Umfeldperson des T.“ bezeichnet. Vor Ort sei „möglicherweise auch der wegen Straftaten im Rahmen des Neukölln-Komplexes verdächtige T. in der Kneipe und sein Auto im Nahfeld festgestellt“ worden. Dann habe er, so der VS, beobachtet, wie Sebastian Thom mit einer anderen Person zusammengetroffen sei. Zu dieser Person sei Thom ins Fahrzeug gestiegen. Der VS habe, so der Bericht der Kommission, umgehend das Kennzeichen dieses Fahrzeugs beim Dauerdienst der Polizei abgefragt; es sei für Halterabfragen gesperrt gewesen. Später am Abend habe sich herausgestellt, dass das Fahrzeug auf einen LKA-Polizeibeamten namens W. zugelassen war. Der VS habe an diesem Abend mehrfach Kontakt zur Polizeibehörde gehabt, diese sei über den Vorfall informiert gewesen. Der VS habe den Sachverhalt am 26. März 2018 offiziell ans LKA übermittelt, dieses habe ihn an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Gegen den Beamten W. wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts der Strafvereitelung im Amt eingeleitet, weil der Beamte in der Vergangenheit an Observationsmaßnahmen gegen Thom beteiligt gewesen sei. Einen Durchsuchungsbeschluss gegen den Beamten lehnte das Amtsgericht ab, weil der Verdacht nicht sicher genug belegt sei. W. selbst hatte angegeben, dass er mit einer anderen Person, einem Freund, in der Kneipe gewesen und auch mit diesem Freund zusammen im Auto zu einem Geldautomaten gefahren sei, damit dieser Geld abheben kann. Der Freund des Beamten bestätigte diese Darstellung. Im November 2018 wurde das Verfahren eingestellt.
So weit, so kompliziert. Die Kommission, namentlich Diemer, regte nun weitere Ermittlungen an. Dabei habe sich laut Bericht herausgestellt, dass der Beamte W. „beim LKA 64 im fraglichen Zeitraum zwar als szenekundiger Beamter im Bereich der Organisierten Kriminalität verwendet wurde, jedenfalls seit Januar 2017 aber nicht in offene und von 2016 bis 2019 auch nicht in verdeckte Maßnahmen (z.B. Observationen) mit Bezug zur PMK-rechts eingebunden war.“ Außerdem habe sich durch eine Kontoabfrage ergeben, dass tatsächlich eine Abhebung am fraglichen Geldautomaten zum fraglichen Zeitpunkt getätigt wurde. Hinzu komme, dass Thom laut dem VS-Behördenzeugnis nicht unmittelbar identifiziert worden sei, sondern sich die Identifizierung aus einem Rückschluss ergebe, „weil das Sichtfenster der Observanten auf den Einstieg der Person in den PKW selbst durch ein anderes Fahrzeug verdeckt war“.
In der Befragung im Untersuchungsausschuss sagt Diemer dazu: „Insofern ist der Vorwurf ausgeräumt und zwar objektiv.“ Diesem Sachverhalt, ergänzt Leichsenring, hätten sie sich auch intensiv gewidmet. Der Abgeordnete Schrader stellt später fest, dass auch nach den Untersuchungen zum Geldabheben Fragen offen seien: „Ein Polizist geht in eine Kneipe, da sind Neonazis – welche auch immer – drin und der Verfassungsschutz guckt zu. Da fragt man sich, was machen die dort? Haben Sie das zur Kenntnis bekommen? Haben die den Thom selbst untersucht – weil sein Auto wurde gefunden dort? Sie haben geschrieben: Umfeldperson des T.“ Diemer: „Was wir bekommen haben, ist, dass der Sachverhalt anlässlich einer Observation von Personen angefallen ist, die nichts mit dem Sachverhalt zu tun hat.“ Schrader: „Es wurde Ihnen auch so geschildert, dass Thom dort gewesen ist?“ Diemer: „Das hat im Bericht gestanden auch.“ [vermutlich gemeint: Bericht der BAO Fokus]
Diemer sagt zum Ermittlungsverfahren gegen den Beamten, dieses sei zu Recht abgelehnt worden vom Ermittlungsrichter, weil nicht untersucht worden sei, ob die Angaben des Polizeibeamten stimmen. Diemer: „Man kommt in der Würdigung zu dem Ergebnis, dass jedenfalls nicht T. im Auto von W. gesessen hat. Der brisante Bezug der Polizei zu Thom war weg.“ Er selbst, so Diemer, würde sich in eine solche Kneipe – man habe ihm gesagt, das sei eine Hertha-Fankneipe – als Staatsanwalt oder Polizist nicht hineinbegeben. Sie hätten Ergebnisse, so Diemer weiter, dass der Beamte an keinen operativen Vorgänge zum Neukölln-Komplex beteiligt gewesen sei zu dem Zeitpunkt. Schrader fragt, ob es Hinweise gegeben habe, dass der Beamte zu früheren Zeiten in dem Zusammenhang eingesetzt gewesen sei oder dass er Thom kennt. Diemer: „Den kennt ja jeder. Es weiß ja jeder, der sich damit beschäftigt, dass der Thom heißt, der T.“ Leichsenring: „Wir haben viel Zeit darauf verwendet, den Vorgang zu objektivieren. Ich will nicht verhehlen, dass da eine kleine Unsicherheit bleibt. Wir konnten aber zu keinem anderen Schluss kommen, wie dann auch die Staatsanwaltschaft.“ Schrader: „Wie hat Ihnen der Verfassungsschutz denn glaubhaft gemacht, dass die Kneipe eine Fankneipe sei und weniger eine Nazikneipe?“ Diemer: „Das habe ich irgendwo gelesen.“ Leichsenring: „Uns wurde gesagt, das sei eine Fußballkneipe.“ Diemer zu Leichsenring: „Aber von wem?“ Leichsenring: „Das weiß ich nicht mehr. Aber uns wurde von Betroffenen gesagt, da haben sich die Nazis doch immer getroffen. Das stelle ich in den Raum. Wir haben uns zwar den Ort mal angeschaut, aber wir waren nicht drin.“
Der Grünen-Abgeordnete Schulze fragt, ob die Kommissionsmitglieder Erkenntnisse hätten, was der VS am „Ostburger Eck“ beobachtet hat. Diemer: „Da hatten wir nur das Behördenzeugnis, dass er in anderer Sache eine Observation durchgeführt hat. Wir hatten keinen Anlass nachzuprüfen. Die waren dienstlich dort und haben zufällig den Thom gesehen und haben es weitergeleitet, also korrekt gehandelt und auch die Polizei hat dann sensibel gehandelt. Ich finde dieser Sachverhalt eignet sich allenfalls dazu festzustellen, dass auf allen Seiten zunächst mal korrekt gehandelt worden ist. Dass man es nicht bis zum Ende untersucht hat, um zu gucken, ob das wirklich stimmt, das hätte man machen müssen, und dann wäre es vielleicht nicht in die Öffentlichkeit gekommen. Was dann vielleicht auch dazu geführt hätte, dass man es etwas sachlicher sieht.“
Parteilicher Staatsanwalt?
Schrader: „Zum Schluss noch eine Frage zu dem Vorgang mit dem Staatsanwalt, der möglicherweise parteilich war.“ [Aus einer Telekommunikationsüberwachung von Tilo P. wurde bekannt, dass dieser nach einer Zeugenvernehmung bei der Staatsanwaltschaft in einem Chat mit einem Neuköllner AfD-Mitglied geschrieben hatte, dass der Staatsanwalt, der ihn in einer anderen Sache vernommen hatte, AfD-Wähler und „auf unserer Seite“ sei, das habe der Staatsanwalt „angedeutet“. Der betreffende Staatsanwalt war damals Leiter einer für Staatsschutz zuständigen Abteilung.] Schrader: „Zur Klarstellung: Sie haben festgestellt, warum [?] der Vorfall nicht gemeldet wurde, als er bekannt wurde, nicht von der Staatsanwaltschaft, aber auch nicht von der Polizei, auch da ist es auf Sachbearbeiterebene hängengeblieben. Ist Ihnen dafür ein Grund genannt von jemandem?“ Diemer: „Das ist uns nicht bekannt geworden, vor allem, ob der Staatsanwalt das gelesen hat, gelesen und falsch eingeschätzt hat, oder richtig eingeschätzt und gesagt hat, ich mache die Meldung trotzdem nicht. Wir haben keine Befugnis oder keinen Sinn gesehen, ihn zu befragen. Wir hätten ja alles hinnehmen müssen, weil wir keine Ermittlungsbefugnisse haben. Richtig war, aus unserer Sicht, dass die Generalstaatsanwaltschaft es übernommen hat, weil die Justiz zeigt: Wir wollen unbeteiligt bleiben.“
Ergebnis: Ein bisschen Brandstiftung und etwas schlechte Kommunikation
Die öffentliche Sitzung endet gegen 16.30 Uhr. Falls im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung nicht noch etwas Weltbewegendes passiert sein sollte, dann erschöpfte sich die Befragung der beiden Kommissionsmitglieder tatsächlich darin, dass sie im Wesentlichen ihren Bericht bestätigten. Die Befragung, und insbesondere die Angaben von Herbert Diemer, unterstrichen eher noch die in Bezug auf das Geschehen in Neukölln verharmlosende Tendenz des Berichtes. Der Neukölln-Komplex schrumpft in der Darstellung der beiden Kommissionsmitglieder im Ausschuss zusammen zu einem Konglomerat aus nun mal schwer aufzuklärenden Autobrandstiftungen, ein paar Kommunikationsproblemen und – vielleicht verständlichen, aber eben subjektiven – Befindlichkeiten der Betroffenen. Die Fülle der Ungereimtheiten und Fehler sowie die beinahe jahrzehntelange Unfähigkeit, die Taten als Serientaten zu begreifen und aufzuklären, lassen sich so aber nicht erklären.
Dass wir es im Neukölln-Komplex mit Kollusion im Sinne einer Zusammenarbeit von Behörden und Neonazis zu tun haben könnten, dafür gibt es bisher tatsächlich nur Verdachtsmomente. Diese Verdachtsmomente sind zwar bisher nicht weiter bekräftigt worden, aber sie sind auch nicht komplett aus dem Weg geräumt worden. Und sie wirken auch deshalb schwer, weil sie eben im Gesamtkontext einer über Jahre hinweg nicht aufgeklärten Serie rechter Taten mit einem weitgehend bekannten Kreis möglicher TäterInnen stehen.
Bei der Frage, ob ein ermittelnder Staatsanwalt AfD-Sympathien hegt und den mutmaßĺichen Tätern daher keine Strafverfolgung drohte, endet die Untersuchung der Kommission bei der Bewertung der Akteneinhalte, weil dieser bei entsprechenden Nachfragen ja ohnehin alles erzählen könne. Die Fragen, wen der VS am „Ostburger Eck“ nun eigentlich observiert hat, und ob Thom am Ort war, bleiben ungeklärt. Und wenn es um den Polizisten Detlef M. und seine letztlich kollusive Handlung, Polizeiinterna an extreme Rechte weiterzugeben, geht, dann reicht der Kommission aus, dass die Beteiligten im Chat außer Tilo P. keinen Bezug zur Tatserie gehabt hätten.
Ex-Staatsanwalt Diemer und Ex-Polizeipräsidentin Leichsenring (die zwar keine Polizistin ist, aber lange eine Polizeibehörde geführt hat) bleiben im Wesentlichen der Behördensicht verhaftet. Die Biographien und auch die persönlichen Beweggründe der beiden Sonderermittler*innen umreißen die vermutlich vom Auftraggeber so beabsichtigte Rollenverteilung zwischen den beiden: Leichsenring spricht mit den Betroffenen, soll dort für gute Stimmung sorgen und gibt dem Ganzen einen zivilgesellschaftlichen Anstrich. Diemer dagegen ist ist für die Aktenlektüre zuständig und soll das Behördennarrativ sichern. Seine Rolle als staatsanwaltlicher Staatsschützer ist ihm anscheinend in Fleisch und Blut übergegangen und er versteht sie allem Anschein nach so, dass er den Staat und seine Organe vor allzu heftiger Kritik zu schützen hat. Das Wissen der beiden über den Neukölln-Komplex jedenfalls ist vor allem Aktenwissen. Dieses Wissen erscheint ihnen – im Unterschied etwa zu den Wahrnehmungen der Betroffenen – als das einzige objektivierbare Wissen. Die Logik zumindest von Herbert Diemer scheint zu sein: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Oder: Weil behördliche Akten sauber geführt werden müssen, werden sie üblicherweise auch sauber geführt. Demgegenüber bezeichnet Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, die Nebenkläger Ferat Koçak im Prozess gegen Sebastian Thom und andere vertrat, die Aktenlage im Verfahren – angesichts der Ankündigung der Generalstaatsanwaltschaft, jetzt richtig ermitteln zu wollen – als unklar und undurchsichtig (Podcast „Aufklären & Einmischen“ / „Vor Ort“).
Einiges spricht dafür, dass wir es möglicherweise mit einer Form von Kollusion im Sinne einer „Nicht-Feindschaft“ zu tun haben, wie es in einem Text von NSU-Watch aus dem Jahr 2020 heißt. Diese wachse, so der Text, „dort, wo es einen gemeinsamen Feind über die politischen Lager hinaus gibt“. Bekanntlich steht der Feind für die Berliner Sicherheitsbehörden schon traditionsgemäß eher links. Eindrücklich ist hierzu der Treppenwitz, dass die einzige Tat, die nach strengeren Maßstäben dem Neukölln-Komplex zuzurechnen wäre und für die es am Ende im Prozess gegen Sebastian Thom auch eine Verurteilung gab, nicht aus Ermittlungen gegen Thom oder andere Neonazis stammt, sondern ausgerechnet aus einer polizeirechtlichen Überwachung eines Antifaschisten. Franziska Nedelmann im Podcast: „Das Absurde ist, dass das einzige, was von dem gesamten so genannten Neukölln-Komplex übrig geblieben ist als Verurteilung, diese Morddrohungen aus März 2019 sind. Und das Absurde an der ganzen Geschichte ist, dass diese Verurteilung nur deshalb stattfinden konnte, weil einer der Antifaschisten von der Polizei überwacht worden ist und es Videoaufnahmen gab, die sich gegen den Betroffenen gerichtet haben. Und nur aufgrund dieser Videoaufnahmen konnte hier Sebastian Thom identifiziert werden.“
Was bleibt?
Von der Befragung der Kommissionsmitglieder bleibt am Ende vor allen Dingen der Vorschlag, dass Staatsschutzdelikte mit einem derartigen Seriencharakter bei der Staatsanwaltschaft bei einer Stelle zusammengefasst und verfolgt werden sollten, auch wenn es sich bei den einzelnen Taten eher um Bagatelldelikte handelt. Hier sieht die Kommission das zentrale, jedenfalls das einzige ernstzunehmende Problem in Bezug auf den behördlichen Umgang mit dem Neukölln-Komplex. Die Kommission schiebt damit sehr deutlich das Problem innerhalb der Ermittlungen auf die fehlende oder fehlerhafte Bearbeitung durch die Staatsanwaltschaft. Sie wirft der Staatsanwaltschaft also einen groben handwerklichen Fehler vor. Hier könnte durchaus der Kern einer Art von Kollusion zu finden sein. Anstatt viel Zeit auf die Klärung von Kommunikationsdefiziten zu verwenden – die ohnehin in jedem Untersuchungsausschuss zu Tage treten – müsste der Ausschuss die möglicherweise politisch motivierte Einseitigkeit der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft genau untersuchen.
Für Franziska Nedelmann ist hingegen auch relevant, dass das LKA viel zu spät erkannt habe, dass es sich um eine Tatserie handelt und dass unterschiedliche Personen „quasi in Aktionszusammenhängen“ agieren, und sich erst ab 2017 darauf eingestellt habe. Außerdem habe, so Nedelmann, der VS zwar beobachtet, aber die Verfolgungsbehörden nie umfassend informiert. Die Ermittlungen seien nicht dazu geeignet gewesen, effektiv gegen rechte Strukturen vorzugehen, wie von der Politik behauptet. Und ihr Mandant Ferat Koçak sei, trotz der Überwachungsmaßnahmen durch den VS, nicht gewarnt worden.
Immerhin zeigten sich die Abgeordneten bei dieser Anhörung, vielleicht unter dem Eindruck des zweiten Offenen Briefes, tatsächlich interessierter und fragten auch mal schärfer nach. Zumindest einige entscheidende Punkte im Neukölln-Komplex konnten in der Befragung deutlicher herausgearbeitet werden. Das lässt für die Zukunft hoffen – falls der Ausschuss eine Zukunft hat.