Mord im rassistischen Kontinuum

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Die Taten des müssen im Kontext der Migrationsdebatten der 2000er Jahre analysiert werden

Von Juliane Karakayali und Bernd Kasparek

zuerst erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 588 / 19.11.2013  Wir danken der Redaktion und den Autor_innen für die freundliche Genehmigung

 

Seit dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wurde erneut über die Serie rassistischer Morde und Pogrome der 1990er Jahre diskutiert. Hier lässt sich eine gegenseitige indirekte Bezugnahme zwischen den politischen Feinden des Asylrechts, die vor allem in den Unionsparteien zu finden waren, und dem rassistischen Terror auf der Straße aufzeigen. Die drei HauptprotagonistInnen des NSU politisierten sich in genau dieser Zeit und erlebten, wie eine gewalttätige und mörderische Praxis zu direkten politischen Erfolgen führen kann. Für die 2000er Jahre, steht eine solche Analyse noch aus. Hier wollen wir ansetzen und versuchen, die Morde des NSU in den Jahren 2000 bis 2006 mit den damaligen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Migrationspolitik zu kontextualisieren.

Einwanderungsland Deutschland

Die Morde des NSU fallen in eine Zeit der erneuten starken Auseinandersetzung im Feld der Migrationspolitik. Im Kern ging es um die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, und wer zur deutschen Gesellschaft dazugehören darf. Rechtliche und repräsentative Erfolge auf dem Weg in die Selbstverständlichkeit einer pluralen Gesellschaft wurden dabei immer wieder gekontert durch Politiken und Debatten, die auf die Bekämpfung, Delegitimierung oder Entrechtung von Migration und MigrantInnen abzielten.

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Bundestagswahl 1998 und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts als eines der ersten Projekte der rot-grünen Regierung. Hierbei ging es um die Abschaffung des Blutsprinzips (ius sanguinis) zugunsten eines Rechts auf Einbürgerung, um die Möglichkeit, in Deutschland geborenen Kindern die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen und um die doppelte Staatsbürgerschaft. Diese Reform wurde von den Unionsparteien mit einer Unterschriftensammlung beantwortet, deren rassistischer Inhalt sich leicht erschloss. Im Jahr 2000 trat die Reform – verwässert durch die Kampagne der CDU – in Kraft. Nach Jahrzehnten bekannte sich Deutschland damit dennoch faktisch dazu, Einwanderungsland zu sein. Dies kann als eine der schwerwiegendsten migrationspolitischen Erfolge der letzten 40 Jahre betrachtet werden.

Dabei stellt das Jahr 2000 ein Schlüsseljahr für jene gesellschaftliche Auseinandersetzung dar, die mit großer Heftigkeit geführt wurde. Bundeskanzler (SPD) erwog erstmals seit dem Anwerbestopp von 1973 öffentlich die erneute Anwerbung von Arbeitskräften und löste damit eine Diskussion über die Einwanderung nach Deutschland aus. Gekontert wurde dieses Anliegen mit dem Slogan »Kinder statt Inder« des CDU-Politikers Jürgen Rüttgers. Dieser begründete seine Ablehnung der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte damit, dass zunächst die massiven Probleme mit der großen Gruppe nicht integrierter TürkInnen gelöst werden müssten.

Zeitgleich kam es auf der Ebene der kulturellen Repräsentation zu einer neuen Sichtbarkeit der Migration: Wladimir Kaminer, ein russischer jüdischer Einwanderer, veröffentlichte die vielbeachtete »Russendisko«, Fatih Akın, Sohn türkischer GastarbeiterInnen, erhielt für seinen Film »Im Juli« viel Aufmerksamkeit, das antirassistische Netzwerk kanak attak gründete sich und der gleichnamige Film des türkischen Einwanderers Feridun Zaimoglu kam in die Kinos. Die Antwort der politischen Rechten auf diese Entwicklungen war die Leitkulturdebatte. In diesem Jahr wurde in Nürnberg der Blumenhändler Enver Şimşek niedergeschossen. Er ist das mutmaßlich erste Opfer des NSU.

Die öffentlichen Debatten um den Stellenwert der Migration für die Gesellschaft in Deutschland wurden begleitet von einer zunehmenden Anzahl rassistischer Übergriffe und Gewalttaten. Nach einem Bombenanschlag auf jüdische und muslimische MigrantInnen in Düsseldorf-Wehrhahn problematisierte die Regierung nach Jahren des Leugnens oder Kleinredens erstmals rassistische Gewalt und neonazistische Organisierung. Diese als »kurzer Sommer der Staatsantifa« bekannt gewordene Initiative gipfelte in dem ersten -Verbotsverfahren, das im Jahr 2001 beschlossen wurde.

In jenem Jahr legte auch die überparteiliche -Kommission einen Vorschlag für das geplante Zuwanderungsgesetz vor, das die Einwanderung nach Deutschland regeln und damit offiziell anerkennen sollte. Damit bestand nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts eine echte Chance auf eine weitere, tiefgreifende Reform der Migrationspolitik. Gleichzeitig ermordete der NSU Süleyman Taşköprü, Abdurrahim Özüdoğru und Habil Kılıç.

Das Jahr 2001 ist jedoch auch das Jahr der Anschläge vom 11. September. Seitdem werden Fragen der Migration und des Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft vermehrt mit dem Verweis auf die Unvereinbarkeit von Demokratie und Islam beantwortet. Im Jahr 2002 scheiterte das Einwanderungsgesetz im Bundesrat, im Jahr 2003 lehnte das Bundesverfassungsgericht das NPD-Verbotsverfahren ab, weil es aufgrund der vielen innerhalb der NPD eine zu starke Verquickung zwischen staatlichen Institutionen und der zu verbietenden Partei gäbe. Auffallend ist, dass der NSU während des laufenden Verbotsverfahrens keine weiteren Morde verübte. Diese Tatsache deutet unserer Meinung darauf hin, dass der NSU stark in die Konjunkturen des organisierten Neonazismus in Deutschland integriert war.

Im Jahr 2003 flammte die sogenannte Kopftuchdebatte auf. Anlass war das Kopftuchverbot im Schuldienst durch das Bundesverfassungsgericht. Im Jahr 2004 setzte der NSU seine Mordserie fort. Mehmet Turgut wurde erschossen und auf die Keupstraße in Köln ein Nagelbombenattentat verübt.

2005 trat das erste deutsche Einwanderungsgesetz in Kraft. Dies ist einerseits ein migrationspolitischer Erfolg, da damit die Tatsache der Migration anerkannt wird. Andererseits spiegelt der Name des Gesetzes die abwehrende Haltung der Politik der Union wider: »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung«. Zur gleichen Zeit bestand zum ersten Mal die Möglichkeit, dass die Verhandlungen mit der Türkei über einen Beitritt zur EU erfolgreich sein könnten. Doch als Bundesinnenminister (SPD) seinen türkischen Amtskollegen Abdülkadir Aksu aufforderte, der Bundesregierung die Namen der deutsch-türkischen MigrantInnen zu nennen, die in Deutschland leben und auf unrechtmäßige Weise die doppelte Staatsangehörigkeit erworben hätten, kam es zum Streit. In der Folge verloren mehrere Tausend Deutsche ihre Staatsangehörigkeit und wurden wieder Türken. Der NSU ermordete in dieser Zeit Theodoros Boulgarides und İsmail Yaşar.

Etwa ab dem Jahr 2005, also 50 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen, wurde auch von offizieller Seite anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Von nun an herrschte ein zunehmend repressiver Integrationsimperativ vor, der sich in dem 2006 beschlossenen ersten Nationalen Integrationsplan materialisierte.

2006 ist auch das Jahr der letzten beiden rassistischen Morde des NSU: Im Abstand von zwei Tagen wurden Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat erschossen.

Ausbürgerung durch Mord

Unseres Erachtens ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ein Schlüssel, um die Morde des NSU zu verstehen. In einer gesellschaftlichen Situation, in der klar wird, dass die Tatsache der Einwanderung nicht mehr negiert werden kann und die Nachkommen der MigrantInnen Deutsche werden, in einem Moment also, in dem auch von politischer Seite anerkannt wird, dass die, die da sind, bleiben und teilhaben werden, erscheinen die Morde wie eine Art der selbstjustiziellen Migrationspolitik: Mord als Politik der Ausbürgerung. Schon die Auswahl der migrantischen Opfer des NSU deutet darauf hin. Es handelt sich nicht um bereits marginalisierte Menschen wie etwa Flüchtlinge oder Obdachlose, sondern um erfolgreiche Kleinunternehmer, deren Kinder in Deutschland geboren waren. Als die einstmals klare, rassistische Kategorisierung als nichtzugehörig zur deutschen Gesellschaft zu verschwimmen beginnt, werden sie zu Opfern einer Ausbürgerung durch Mord.

Damit schließen die Morde des NSU an den Brandanschlag auf ein von türkischen MigrantInnen bewohntes Haus in 1992 an, bei dem drei Angehörige der Familien Arslan und Yilmaz starben, sowie an den Brandanschlag auf ein Haus in 1993, bei dem fünf Angehörige der Familien Genç, Öztürk und Inçe ermordet wurden. Auch diese Taten wurden durch bekennende Neonazis begangen. Schon in den 1990er Jahren verwies die Rechtsextremismusforschung darauf, dass sich viele Neonazis keineswegs als Rebellen, sondern als Ausführende eines öffentlichen Willens imaginieren. Angesichts dessen bilden der Diskurs um die Reduzierung der Migration, die Frage der Staatsbürgerschaft und die Ermordung von MigrantInnen ein Kontinuum. Es geht jeweils darum, MigrantInnen aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen. Kann dies nicht mehr durch Ausweisung geschehen, da die MigrantInnen bereits weitgehende Bürgerrechte innehaben, so werden sie ermordet.

So lässt sich auch die Frage beantworten, wieso sich der NSU mit seinen Taten nicht öffentlich brüstete. Damit wurde eine Taktik der Verunsicherung verfolgt, wie sie in den 1990er Jahren von Neonazis diskutierte wurde. Ihr Effekt war, dass die Opfer als »anders« markiert wurden, mit den Anschlägen wurden sie und ihre Angehörigen erneut zu »Ausländern« gemacht. Von dieser Erfahrung des Markiertwerdens sprechen alle Angehörigen der Opfer. An diesem Punkt kommen der des NSU und der strukturelle Rassismus von Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen und entfalten ihre Wirkung.

Ermordet wurden Menschen türkischer Herkunft bzw. ein griechischer Staatsangehöriger, der vermutlich versehentlich als Türke identifiziert wurde. Dass gerade türkische MigrantInnen in den Fokus des NSU gerieten, erstaunt wenig. Spätestens seit dem Anwerbestopp von 1973 wurde diese Gruppe in besonderer Weise Zielscheibe des Rassismus. Ihnen wurden als Nicht-EU-BürgerInnen am wenigsten Rechte zugestanden, gegen sie herrschten die größten Ressentiments, und sie sind auch heute noch sozio-ökonomisch stark benachteiligt. Seit einigen Jahren ist eine Form des Rassismus festzustellen, die gerade diese Gruppe fokussiert. Insbesondere infolge des 11. Septembers 2001 werden als »MuslimInnen« konstruierte Personen mit einer fundamentalistischen, antiegalitären und antimodernen Kultur in Verbindung gebracht. Die Assoziation dieser Menschen türkischer Herkunft mit Mord bediente das ganze Repertoire an Konstruktionen dessen, was seit den 1990er Jahren als »Parallelgesellschaft« bezeichnet wurde: Gewalttätigkeit, (organisierte) Kriminalität, Gefahr und kulturelle Differenz.

Im Zuge der Ermittlungen rund um den NSU wurde ein weiteres Kriterium deutlich, nach dem die Opfer ausgesucht wurden: Es sollten Männer im zeugungsfähigen Alter sein. Hier offenbart sich ein biologistischer Rassismus, der uns einige Jahre später in den Publikationen eines wieder begegnet, wenn er laut über die defizitären Gene der muslimischen Bevölkerung schreibt.

Der NSU hat kaum Dokumente hinterlassen, in denen er seine rassistischen Mordmotive erläutert. Anhand der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Kontextes wird jedoch klar, dass die mörderische Politik des NSU in einem rassistischen Kontinuum stattfand. Und dennoch: Die Realität einer pluralen und Einwanderungsgesellschaft haben die TäterInnen nicht verhindern können. Am Ende sind sie gescheitert.

Juliane Karakayali ist Professorin für Soziologie an der evangelischen Hochschule Berlin und Teil eines Diskussions- und Aktionszusammenhanges zum NSU. Bernd Kasparek ist aktiv in der Karawane München und dem Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.