Der lange Weg der Aufarbeitung: Zum Umgang der türkischsprachigen Presse mit den Morden des NSU

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In diesem Artikel geht es um die Wahrnehmung der türkischsprachigen Presse zum NSU-Komplex und deren Umgang damit. Diesem Artikel zugrunde liegt eine Analyse der Berichterstattung in den Zeitungen Sabah, Hürriyet und Evrensel [1], die durch das Losverfahren eine Platzreservierung für die Presse im Gerichtssaal erhielten.

Analysiert wurde das gesamte Online-Archiv dieser drei Zeitungen im Zeitraum von 04. November 2011 bis 28. März 2014; also zwischen dem Bekanntwerden des NSU und dem 99. Prozesstag.

Bei Sabah und Hürriyet fällt auf, dass die Berichterstattung sich zwei Wochen nach Prozessauftakt fast ausschließlich auf die Europa-Ausgaben beschränkte. Dabei hatten sie das Verfahren am OLG München als »Jahrhundertprozess« tituliert, bei dem »türkische Opfer« (die Betonung der nationalen Herkunft spielt in beiden Zeitungen eine wichtige Rolle) den als »Nazi-Überbleibsel« bezeichneten Tätern gegenüber stehen. Artikel wie »Der Prozess des Jahrhunderts« oder Fotos von demonstrierenden Migrant_innenselbstorganisationen, die vor dem Gerichtssaal ein Transparent mit der Aufschrift »Hitlerkind Zschäpe, du wirst für die Mörder bezahlen müssen!« tragen (Sabah, 6. Mai 2013), waren in den Hauptausgaben in der Türkei spätestens ab der dritten Woche kaum noch zu lesen.

Fast jeder Artikel in Sabah und Hürriyet beginnt mit dem Einleitungssatz: »Der von rassistischen Neonazis gegründete NSU, der acht Türken und zwei weitere Personen ermordete«. Dieser nationale, ja zum Teil nationalistische Duktus, ist allerdings charakteristisch für den allgemeinen Sprachgebrauch in diesen beiden Zeitungen. Er schaltet zugleich die Wahrscheinlichkeit aus, dass es sich bei einem oder mehreren Opfern um Kurden handeln könnte. Dagegen sind die Artikel in Yeni Hayat bzw. Evrensel (6. Mai 2013) von sachlich richtigen Aussagen gekennzeichnet: »Der NSU hat 10 Menschen, davon neun mit Migrationshintergrund und eine Polizeibeamtin ermordet«, bzw. »acht aus der Türkei und einen aus Griechenland stammende Kleinunternehmer«.

Alle drei Zeitungen stimmen in der Feststellung überein, dass der NSU-Prozess als ein Teil deutscher Geschichtsaufarbeitung zu betrachten ist. Unter der Überschrift »Tag der Abrechnung« berichtet Hürriyet von einem historischen »Tag, an dem der Prozess gegen die im Staat organisierten Überbleibsel der Nazis in München beginnt« (Hürriyet, 6. Mai 2013). Ein Sabah-Kolumnist geht weiter und wirft die Frage auf, »warum die Ausländerfeindlichkeit im genetischen Code des deutschen Staates nicht geknackt« werden könne. (Sabah, 4. Juli 2013) Beide Zeitungen beschränken sich darauf, in ihrer Berichterstattung die offiziellen Stellungnahmen der türkischen und deutschen Regierung wiederzugeben. Als Hauptziel geben sie die Wiederherstellung des verlorenen Vertrauens von Angehörigen der Opfer und der gesamten Migrantencommunity in das deutsche Rechtssystem sowie in die deutsche Gesellschaft an.

Auch in Yeni Hayat wird diese Absicht unterstützt. Sie geht aber viel weiter und beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe offizieller Statements. Auf ihren türkischen und deutschen Seiten wird die Debatte über den gesamten Komplex widerspiegelt und auch die Lösungsvorschläge wie die Forderung der Linkspartei und anderer Kreise nach dem Verbot des Verfassungsschutzes finden hier ihren Platz. Unter der Überschrift „Zeit der Konfrontation“ schriebt ihr Kolumnist: „Deshalb muss der NSU-Prozess dafür genutzt werden, um die Beziehungen des Staates und seiner Geheimdienste zu rassistischen Organisationen aufzudecken und zu hinterfragen. (…) In den zurückliegenden anderthalb Jahren wurde deutlich, dass staatliche Institutionen nicht die Absicht führen, in dieser Hinsicht tätig zu werden. Aus diesem Grunde wird entscheidend sein, welche Haltung die Bevölkerung (…) einnehmen wird.“ (Yeni Hayat, 15. April 2013)

Strategische Verkürzungen in der Kritik

Ein weiterer Aspekt, der in der Berichterstattung Beachtung findet, ist die Rolle und Arbeitsweise der staatlichen Organe wie Verfassungsschutzämter, Polizei, Justiz etc. im Zusammenhang mit dem NSU. In den Europa-Ausgaben von Hürriyet und Sabah sowie in Yeni Hayat wird diese Rolle hinterfragt und ausführlich durchleuchtet. Die Ausgaben von Sabah und Hürriyet in der Türkei jedoch verknüpfen diesen Aspekt mit dem Begriff »tiefer Staat«, mit dem »Gladio«-ähnliche Organisationen im Staatsapparat umschrieben werden. Dieser in der Türkei weit verbreitete Begriff wird zur Klärung der Rolle deutscher Behörden angewendet. Hürriyet in der Türkei betitelt ihren Artikel über den Prozessauftakt mit dem Satz »Der tiefe Prozess Deutschlands beginnt« (4. Mai 2013). Der o.g. Sabah-Kolumnist verweist an gleicher Stelle »auf die Unzulänglichkeiten der NSU-Ermittlungen, den tiefen Staat in Deutschland aufzudecken« (Sabah, 4. Juli 2013).

Es wird deutlich, dass insbesondere Sabah, aber in einem gewissen Maße auch Hürriyet, ihre Berichterstattung über den NSU-Prozess dazu nutzen, die türkische Regierung vor Kritik an anderer Stelle in Schutz zu nehmen: Ob brutales Vorgehen der türkischen Polizei bei
oder fehlende Bemühungen der AKP-Regierung bei der Demokratisierung des Landes – in fast allen Zusammenhängen erhält das Interesse der türkischen Regierung und ihrer Vertreter_innen an der Aufklärung des NSU auch immer ein strategisches Moment,  indem das Versagen der deutschen Behörden gegen die Kritik an der türkischen Situation ausgespielt wird.

Fortlaufende sprachliche Missgriffe

In einer Studie des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung wurde anhand der Berichterstattung in der Bild-Zeitung über Beate Zschäpe der Diskurs um Frauen im Rechtsextremismus analysiert. Die dort kritisierten Begriffe wie  »Nazi-Braut« oder »Döner-Morde« bzw. das Bildmaterial wurden jedoch auch von türkischsprachigen Medien übernommen. Während die große Mehrheit der deutschen Zeitungen das Unwort des Jahres 2011 »Döner-Morde« nach dem Bekanntwerden des NSU nicht mehr verwendete, war er für Hürriyet und Sabah eine Zeit lang ein essentieller Teil ihres Sprachgebrauchs.

Inzwischen verwendet die Presse den Begriff »Döner-Morde« nicht mehr. Dennoch werden weiterhin durch die Bezeichnung der ermordeten Menschen mit Migrationsgeschichte als »Ausländer« mit »türkischen Wurzeln« oder »Türken« –sowohl in der türkischsprachigen Zeitungen Sabah und Hürriyet als auch in den deutschsprachigen Medien Spiegel und Tagesspiegel – Diskriminierung, Ausgrenzung und nationale Erzählungen reproduziert.

Semiya Şimşek, die Tochter des Ermordeten Enver Şimşek, sagte in einem Spiegel-Interview: »Ihr alle habt uns schuldig gesprochen: Polizei, Medien, Gesellschaft.« (Der Spiegel, 12. Dezember 2011). Mit diesen Worten unterstrich sie aus eigener Erfahrung, welche Rolle die Medien bei der Meinungsbildung zu spielen vermögen. Das Fazit dieser Analyse kann man im folgenden Satz zusammenfassen: Auch die türkischsprachigen Mainstream-Medien wurden bei ihrer Berichterstattung über den NSU-Komplex dieser Verantwortung nicht gerecht. Es hat sich gezeigt, dass noch ein langer Weg zur Aufarbeitung notwendig ist, einerseits in der Aufarbeitung der NSU-Morde, als auch andererseits in der Verwendung von Begriffen und der Beschreibung der Vorfälle in der Presse.

Özge Pınar Sarp

[1] Hürriyet und Sabah sind auch in Deutschland mit einer Europa-Ausgabe erscheinende Tageszeitungen. Evrensel erscheint lediglich in der Türkei. Ihr Europa-Korrespondent ist zugleich Redakteur der in Deutschland vierzehntägig erscheinenden, zweisprachigen Zeitung Yeni Hayat (»Neues Leben«). Sie teilt ihren Platz im Gerichtsaal mit taz und Neues Deutschland.

Dieser Artikel erschien auch  in der 64. Ausgabe der Zeitschrift monitor – Rundbrief des apabiz und bei YeniHayat.