Ein Rückblick des Vereins LOBBI e.V., erschienen im Antifaschistischen Info-Blatt #94
Das fünfte Opfer des »NSU« wurde 2004 in Rostock umgebracht – der einzige Mord, der in Ostdeutschland verübt wurde. Im Gegensatz zu den alten Bundesländern existierte in Mecklenburg-Vorpommern zu dieser Zeit bereits ein spezialisiertes Opferberatungsprojekt für Betroffene rechter Gewalt.
Drei Dinge dürften mit verhindert haben, dass das rassistische Motiv der Mordserie bei den Ermittlungen erkannt wurde. Der Reflex, den Opfern aufgrund ihres Migrationshintergrunds eine Verstrickung in kriminelle Machenschaften zu unterstellen. Die Missachtung der Einschätzung von Angehörigen und Freund_innen der Opfer. Und der Irrglaube, deutsche Neonazis wären nicht fähig und willens zehn Menschen kaltblütig umzubringen.
Bei aller berechtigten Kritik, die sich deshalb an Polizei und Geheimdienste richtet – der Staat ist nicht der einzige Akteur. Als Mehmet Turgut am 25. Februar 2004 an einem Imbiss im Stadtteil Toitenwinkel erschossen wurde, erkannten auch wir den rassistischen Tathintergrund nicht. Ein maßgeblicher Grund für die Entstehung der LOBBI war die Erfahrung, dass bei rechten Gewalttaten das Tatmotiv häufig von Behörden nicht erkannt oder geleugnet wird. Das Selbstverständnis der LOBBI beinhaltet explizit das Ziel, dieser Wirklichkeit entgegenzuwirken. Wieso versagte der Ansatz in diesem Fall?
Die LOBBI hat bestimmte Routinen entwickelt, um das Dunkelfeld rechter Gewalt aufzuhellen und den Betroffenen Beratung und Unterstützung anbieten zu können. Täglich durchsuchen wir beispielsweise die Lokalteile der Zeitungen nach Meldungen über rechte Angriffe – und eben auch nach Angriffen, die ein rechtes Motiv nicht nennen aber möglich erscheinen lassen. In der Regel sind dies Artikel, die bestimmte Opfergruppen erwähnen: Also etwa Punks, Migrant_innen, Obdachlose. Oder es sind bestimmte Informationen über den Tathergang enthalten, also besondere Orte, benutzte Waffen oder Abläufe und Beschreibungen. Wir versuchen dann im Rahmen unserer Möglichkeiten, diese Zweifelsfälle zu recherchieren. Eine andere Routine ist die Einbeziehung und Anerkennung der Opferperspektive. Das bedeutet, dass die Betroffenen nach ihrer Einschätzung des Tatmotivs gefragt werden und ihnen auch geglaubt wird.
Dieser Ansatz griff zunächst auch nach dem Tod von Mehmet Turgut. Im Februar 2004 registrierten wir Presseberichte über einen Mord an einem Türken im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel. Der Migrationshintergrund des Opfers war für uns der Anlass, die Tat als möglicherweise rassistisch motiviert einzuordnen. Daher lief eine Recherche zu dem Fall an. Ein Mitarbeiter der LOBBI fuhr zum Imbiss, um die Betreiber zu befragen – traf dort aber niemanden an. Er sprach daraufhin mit Menschen in der Umgebung des Standes, ohne dabei weitere Informationen zu einem möglichen Tatmotiv zu erhalten.
Wenige Tage später gab die Polizei bekannt, dass die Tat im Zusammenhang mit einer Mordserie an Imbissbetreibern stehe und Schutzgelderpressung das Motiv sein könnte. Damit endete die Recherche der LOBBI. Warum? Nach acht Jahren ist dies kaum noch genau nachzuvollziehen. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass uns das von der Polizei genannte Tatmotiv nicht unwahrscheinlich erschien. In Rostock sind gewalttätige Auseinandersetzungen im kriminellen Milieu, mit Beteiligten unterschiedlicher Herkunft, schon vorgekommen. Hinzu kam, dass der Hinrichtungscharakter und der überregionale Kontext der Tat eher in der organisierten Kriminalität zu erwarten ist. Wir hatten zu dem Zeitpunkt kaum andere Anhaltspunkte. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. War auch bei uns die Herkunft des Opfers ein Grund, der Polizeiversion ohne weiteres Hinterfragen zu glauben? Dass rassistisch begründete Vorurteile auch bei antirassistischen Projekten zu finden sind, ist uns klar. Spielten derartige Vorurteile hier unbewusst eine Rolle? Wir glauben das nicht und sehen das Problem eher im offenbar noch nicht ausreichend ausgeprägten Misstrauen gegenüber polizeilichen Aussagen.
Wir haben uns deshalb nicht an die zweite Routine gehalten. Die Perspektive der Angehörigen und Freund_innen haben wir nach der offiziellen Einschätzung nicht abgefragt. Mehmet Turgut kam aus Hamburg und hielt sich illegalisiert in der Bundesrepublik auf. Ansatzpunkte, die Angehörigen zu finden und zu befragen, waren denkbar gering. Allerdings hätten wir den Imbissbetreiber durchaus später noch aufsuchen und befragen können. Dies nicht zu tun, war ein Fehler.
Die Herkunft des Opfers spielt allerdings an anderer Stelle eine Rolle. Die strukturelle gesellschaftliche Ausgrenzung von Migrant_innen ist uns bewusst. Doch die daraus resultierenden fehlenden Zugänge haben auch wir nicht überwunden und reproduzieren damit diese Ausgrenzung. Von den Einschätzungen der Angehörigen und Freund_innen des Opfers oder auch von den Demonstrationen in Kassel und Dortmund 2006 haben wir nicht erfahren. Bei anderen Zielgruppen rechter Gewalt wäre das kaum vorstellbar. Wenn beispielsweise alternative Jugendliche, Antifas oder linke Politiker_innen in Mecklenburg-Vorpommern von Angriffen betroffen sind, bestehen Kontakte und Netzwerke, über die uns in der Regel Informationen erreichen. Zu Migrant_innencommunities und insbesondere illegalisierten Arbeitnehmer_innen bestehen dagegen vergleichsweise wenig oder gar keine Kontakte und Netzwerke.
Neben der fehlenden Einbeziehung der Opfer haben wir die TäterInnen-szene falsch eingeschätzt. Wir beraten seit über zehn Jahren Betroffene rechter Gewalt. Uns sind die tödlichen Potentiale rassistischer, antisemitischer, sozialdarwinistischer und nationalsozialistischer Ideologien durchaus bewusst. In Mecklenburg-Vorpommern wurden mindestens zehn Menschen aus diesen Motiven umgebracht, in anderen Fällen nahmen die TäterInnen bei Körperverletzungen den Tod ihrer Opfer in Kauf. Morde und Mordversuche, Anschläge, Waffenfunde bei Neonazis, Wehrsportübungen, extreme Gewaltphantasien in Liedtexten oder Onlinekommentaren, martialisches Auftreten und positiver NS-Bezug – all das war uns bekannt. Dennoch waren wir von den Erkenntnissen über das Ausmaß der Mordserie und die Skrupellosigkeit des »NSU« überrascht und entsetzt. Ob im Februar 2004 oder noch im Oktober 2011: Eine über Jahre hinweg unentdeckt bundesweit mordende Untergrundgruppe von Neonazis lag außerhalb unserer Vorstellung und unseres Erfahrungshorizonts. Diese geplante, offenbar gut vorbereitete und nüchtern ausgeführte Hinrichtung passte nicht zu dem, was wir bisher im Zusammenhang mit den eher impulsiven und spontanen Morden und Tötungen durch Neonazis beobachtet haben.
Ein weiterer Aspekt war sicher die fehlende Vernetzung nach Westdeutschland. Wären die anderen Morde auch in den neuen Bundesländern begangen worden, hätte, so unsere These, das bestehende Netzwerk aus Opferberatungsprojekten einen möglichen rassistischen Hintergrund der Taten gemeinsam wahrgenommen und diskutiert – spätestens als dieser Verdacht von den Angehörigen direkt geäußert wurde. Aber dieses Netzwerk bestand nur im Osten.
Wir halten unseren Ansatz für wichtig und richtig. Wir sehen uns als Bestandteil der vielen nichtstaatlichen Organisationen, Gruppen, Bündnisse und Einzelpersonen, die in der Vergangenheit oft erfolgreich rechte Strukturen aufdeckten, der Szene aktiv Grenzen setzten und nicht zuletzt in vielen Fällen von rechter Gewalt Druck auf Politik und Behörden ausübten. Dennoch müssen wir angesichts der Mordserie über eigene Konsequenzen nachdenken. Dazu gehört die Analyse und Neubewertung der Gewalt- und Untergrundbereitschaft der deutschen Neonaziszene. Dazu gehört das Vorantreiben bundesweiter Vernetzungen, um überregionale Entwicklungen und Übereinstimmungen leichter erkennen zu können. Vor allem gehören dazu aber Überlegungen, wie gerade bei rassistischen Taten die Reproduktion falscher behördlicher Deutungen und eigener Vorurteile vermieden werden kann. Nicht zuletzt ist die stärkere Beachtung der Opferperspektive nach rechten Gewalttaten, als politische Forderung an ermittelnde Behörden wie auch an Antirechtsinitiativen voranzutreiben.