Imran Ayata hielt die Rede »Diesseits und jenseits des Rassismus« auf dem Hearing „NSU, Rassismus und die Stille im Land“ am 2. Juni 2012 in Berlin.
Zunächst möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, dass ich heute im Rahmen dieses Hearings zu Ihnen sprechen kann. Für mich ist das eine besondere Einladung, weil das Thema mich schon sehr lange begleitet.
Voranstellen möchte ich zudem meinen aufrichtigen Dank an die Organisatorinnen und Organisatoren, nicht dafür, dass sie mich eingeladen, sondern eine solche Veranstaltung auf die Beine gestellt haben. Es geht darum, Rassismus und dem gesellschaftlichen Schweigen darüber, wieder eine – wenn auch vermutlich nur punktuelle – Öffentlichkeit zu verschaffen. Genau das war nach dem Bekanntwerden der rassistischen Morde des NSU der Fall. Schnell aber verschwand das Thema wieder von der öffentlichen Agenda. Darin etwas Spezifisches zu suchen, ist mühselig, denn heute kommen und gehen Themen, werden inszeniert und gemacht und wieder von der Tagesordnung verdrängt – von gesellschaftlichen Akteuren oder Medien.
Ich habe natürlich eine Ahnung, warum die Organisatorinnen und Organisatoren mich gebeten haben, dieses Einstiegsstatement zu halten und ich will versuchen, dem gerecht zu werden. In aller erster Linie stehe ich deswegen am Rednerpult, weil ich letztes Jahr die sogenannte „Möllner Rede“ anlässlich der Gedenkveranstaltung an den Brandanschlag von 1992 gehalten habe. Sie war auch eine Intervention im Zuge des NSU und markierte Positionen, die möglicherweise seltener ausgesprochen und gehört werden. Falls Sie dennoch die Sorge haben, ich würde diese Rede vom November 2011 remixen und das Gesagte in andere Worte kleiden, dann kann ich Sie beruhigen. Denn das werde ich nicht tun.
Vielmehr möchte ich, einige einführende Anmerkungen machen,
- woher die Stille im Land rühren könnte,
- wie der Umgang mit rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung sich verändert,
- warum wir uns im Kontext von Rassismusdebatten kritisch gegenüber dem politischen Islam verhalten müssen.
Es ist klar, dass diese Fragestellungen nicht in einem solchen Statement hinreichend beantworten werden können. Ich bin Beobachter und Protokollant, manchmal teilnehmend, manchmal außen stehend. Wenn Sie so wollen, führe ich hier also ein öffentliches Selbstgespräch, das vor allem durch persönliche Beobachtungen gekennzeichnet ist.
Deswegen will ich mit einer Anekdote aus meiner Kindheit beginnen. Es war ein heißer Tag und wir spielten nach der Schule trotzdem, oder gerade deswegen, Fußball. Schon immer ist es beim Fußball so gewesen, dass es gute, schlechte und eben außergewöhnlich gute Spieler gibt. Unser Topspieler hieß: Thorsten Goulu. Ich erinnere mich vor allem daran, dass er ein knochenharter Spieler war. Wenn man mit ihm in einen Zweikampf geriet, bekam man seine Knochen zu spüren. Dass man das nicht so schnell vergaß, dafür sorgten schon die blauen Flecken, die man davon trug, wenn man sich auf dem Feld Thorsten Goulu in den Weg stellte. Auch außerhalb des Platzes war Thorsten nicht gerade zimperlich. Streit klärte er selten mit Argumenten, sondern mit Fäusten. Ich fürchtete Thorsten besonders, weil er mit Ausländerkindern viel zu klären hatte. Vielleicht ahnen Sie es schon, ich spreche nicht von wohlbehüteten Verhältnissen, einem Leben in der Mittelschicht und gymnasialer Erziehung. Thorsten und ich lebten in einem Stadtteil, wo die meisten lieber nicht wohnten und wir gingen auf dieselbe Hauptschule, die nicht gerade eine Komfortzone war. An diesem heißen Sommertag lief es für mich auf dem Fußballfeld anfangs aber ziemlich gut. Ich schoss nicht nur Tore, sondern tunnelte gleich zweimal Thorsten Goulu. Für nicht Fußballexperten unter Ihnen: Tunneln bedeutet, den Ball durch die Beine des Gegenspielers zu spielen. Thorsten wusste, was Tunneln hieß. Es hieß Schmach. In ihm kam Wut auf. Sofort fing er zu pöbeln an, die ganze Zeit. Scheiß Türke, scheiß Batschake, hau in deine Heimat ab, du und deine acht Geschwister. Ihr Knoblauchfresser vermehrt euch wie Kaninchen, damit ihr viel Sozialhilfe kriegt. Vielleicht lag es an der Unterstellung von Massengeschwistern – ich habe nur eine Schwester – und seiner Vermutung, Sozialhilfe kassieren zu wollen, was sich mit dem schwäbisch-anatolischen Ethos meiner Eltern nicht vertrug. Auf jeden Fall reichte es mir. Plötzlich ging ich auf Thorsten los, obwohl er stärker war und ich unter normalen Umständen keinen Stich gegen ihn machen würde. Es dauert nur Sekunden und Thorsten lag auf dem Boden. Ich saß auf ihm, immer noch voller Wut wegen seiner Beleidigungen, drückte mein Knie gegen sein Kinn, schlug ihn abwechselnd ins Gesicht und in den Bauch. Seine Nase blutete, er gab merkwürdige Laute von sich. Hätten die Mitspieler Thorsten nicht gerettet, ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre.
Es wird niemanden hier überraschen, dass mein Wortschatz damals einen Begriff wie Rassist nicht kannte. Thorsten war einfach nur Deutscher und Ausländerfeind oder genauer gesagt ein ausländerfeindlicher Deutscher. Erst ein Jahrzehnt später, also in den prägenden 90er Jahren, lernten ich und meinesgleichen das Alphabet der Diskriminierung und Ausgrenzung neu zu buchstabieren. Vor unseren Augen brannten Häuser, rassistische Anschläge wurden ausgeübt, erst in Bayern, dann in den neuen Bundesländern, in Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und vielen anderen Orten in Deutschland. Der rassistische Mob wütete, Menschen wurden ermordet, die Medien berichteten – mal alarmierend mal nüchtern. Politikern fiel erstaunlich wenig ein, um diese Entwicklungen einzuordnen und klare Kante zu zeigen. Bis heute ist mir in Erinnerung geblieben, dass der damalige Bundeskanzler seinen Regierungssprecher ausrichten ließ, dass er nicht nach Solingen fahren werde, weil er den „Beileidstourismus“ anderer Politiker vor dem Tatort ablehne. Zugestimmt haben viele Politiker später gemeinsam der faktischen Abschaffung des Asylrechts. Es wurden Zusammenhänge konstruiert, die so neu nicht waren. Dass Neonazis und Rechtsradikale ihr Unwesen trieben, hatte in der Logik dieser Politiker auch damit zu tun, dass zu viele Flüchtlinge und Ausländer in Deutschland lebten. Der wachsenden Zahl von „Fremden“ Einhalt zu gewähren, schien ihre Losung zu sein. Der eine oder andere sprach es ganz explizit aus: Ausländer nehmen anderen Jobs und Wohnraum weg, fallen auf, führen ein Alltagsleben, was sich nicht mit den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft deckt.
Das war die eine Seite.
Die andere Seite war der Protest Hunderttausender, die sich gegen die rassistische Gewalt und das Wüten der Neonazis stellte. Aus diesem Protest heraus gründeten sich neue Initiativen und Gruppen, die Begriffe wie Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit aus ihrem Vokabular verbannten. Die Zeit war längst reif, die Dinge beim Namen zu nennen und so hielt Rassismus Einzug in die öffentliche Debatte.
Ganz allmählich bildete sich auch eine neue Haltung heraus, die rassistisches Denken und rassistische Taten nicht nur verurteilte, sondern zu kontextualisieren wusste. Damals habe ich gedacht, damit sei die Grundlage dafür geschaffen, antirassistische Positionen nachhaltig in dieser Gesellschaft zu verankern und zumindest dann intervenieren zu können, wenn rassistische Gewalttaten ausgeübt worden sind. Neonazis und Rechtsradikale haben bis zu den NSU-Morden nicht auf Pause geschaltet, sondern weiterhin gepöbelt, gedroht, Gewalt ausgeübt und gemordet. Nur öffentlich verhandelt wurde das kaum noch. Entscheidend scheint mir in diesem Kontext auf etwas hinzuweisen, obwohl das alle in diesem Raum wissen. Dieser rassistischen Gewalt haben sich Initiativen, politische Gruppen, Parteipolitiker und Bürgerinnen und Bürger dagegengestellt – auch wenn es die breite Öffentlichkeit nicht mehr interessierte. Dass heute einige von Ihnen hier sprechen werden, ist viel wichtiger, als alles was ich von hieraus gesagt habe bzw. sagen werde.
Und heute? Warum scheint die Stille im Land nach den Morden des NSU die passende Überschrift zu sein, nicht nur für dieses Hearing, sondern ganz allgemein für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, die bis heute nicht stattgefunden hat. Und warum fällt es vielen heute so schwer, von Rassismus zu sprechen?
Diese Fragen beschäftigen mich seit einiger Zeit, sie werden es noch eine ganze Weile tun. Das heißt auch, dass ich keine schlüssige Erklärung oder tragfähige Thesen parat habe, warum all das so ist. Meine Argumente sind nicht zu Ende gedacht und möglicherweise in sich widersprüchlich. Trotzdem will ich sie mit Ihnen teilen.
Ein ganz entscheidender Punkt scheint mit zu sein, wie staatliche Politik auf die NSU-Morde reagiert hat. Wie soll man auf die Straßen gehen, protestieren, Netzwerke und Bündnisse bilden, der eigenen Wut Ausdruck verleihen, die Taten des NSU verdammen, Aufklärung und Konsequenzen fordern, wenn die staatliche Politik dies tut. Natürlich nicht alles, aber vieles davon. Dass die im Bundestag vertretenen Parteien geschlossen mit einer Schweigeminute den Opfer der NSU-Morde gedachten und dies einige Wochen später sogar in einem Staatsakt erneut getan wurde, stellt für mich eine Zäsur dar. Symbolische Handlungen sind symbolische Handlungen, sie mögen für viele unter Ihnen nicht weit reichend sein. Dem will ich nicht widersprechen. Doch mit diesen symbolischen Handlungen wurde demonstrativ herausgestellt, dass die Opfer „unsere Opfer“ sind. „Unsere Bürger“, die ermordet wurden. Und das, obwohl nicht Hunderttausende demonstrierten oder die Politik durch mediale Berichterstattung unter Druck gesetzt worden war.
Es ist entscheidend, wer schweigt. Wenn das der Bundestag tut, kann ich dem – wie gesagt – etwas abgewinnen. Dieses Schweigen war laut. Es hat viele erreicht, vermute ich. Warum aber Migrantenorganisationen und Lobbygruppen zum „Schweigen gegen das Schweigen“ aufriefen, verstehe ich nicht. Ich verstehe auch nicht, was Leute angetrieben hat, Autokorso zu veranstalten, um hupend gegen die NSU-Morde zu protestieren. Diese Form der Selbststigmatisierung und Selbstironie erklärt sich mir bis heute nicht, auch wenn mir klar ist, dass es um demonstrative Anteilnahme und Solidaritätsbekundung ging. Das aber nicht darüber hinaus ging und in der Phrasendrescherei von Sprechern migrantischer Lobbyorganisationen stecken blieb, ist eine verpasste gesellschaftliche Chance. Denn das Gebot der Stunde war nicht Schweigen, sondern Reden.
Es macht im Nachhinein wenig Sinn, eine solche gesellschaftliche Debatte, der ich das Wort rede, zu konturieren. Ich weiß nicht einmal genau, wer wie diese Debatte hätte führen und was deren Inhalt hätte sein können. Ich wünschte, es wäre in Ansätzen zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber gekommen, wie wir miteinander leben wollen und Grenzen benennen, die rassistische Haltungen und Handlungen verdammen. Vielleicht ist diese Debatte auch deswegen nicht in Gang gekommen, weil staatliche Politik schneller war und den Rahmen absteckte, in welchem die NSU-Morde verhandelt werden sollten.
Daran alleine lag es wohl kaum. Ich will nicht Teil der Litanei sei, die die Schwäche antirassistischer Gruppen und Bewegung oder die Zurückdrängung ihrer Positionen beklagt. Ich fürchte nur, das Fehlen einer solchen Debatte nicht nur politischer und gesellschaftlicher Ignoranz geschuldet ist, sondern auch damit zu tun hat, dass viele derer, die in den 90er Jahren und später im Feld des Anti-Rassismus tätig waren, es heute nicht mehr sind oder nicht mehr öffentlich durchdringen. Ich selbst bin einer von ihnen.
Möglicherweise hat Schweigen in der Gesellschaft damit zu tun, dass man sich nach all den Jahren an rassistische Gewalt gewöhnt. Schließlich gehört es zu unserem Alltag, dass irgendwo in Deutschland mindestens drei rechte und rassistisch motivierte Gewalttaten pro Tag stattfinden – mir scheint, als ob wir uns damit abgefunden haben. Wenn wir uns nicht damit abgefunden haben, dann arrangieren wir uns offensichtlich damit, dass es dafür Zuständige gibt – wie zum Beispiel die Opferberatungen. Von der gescheiterten Lüge des Multikulturalismus bis zum Ende der Asylpolitik scheint die Vorstellung einer offenen Gesellschaft nicht mehr zu existieren, weil die einen sowieso nicht daran geglaubt haben und andere wiederum diese vor allem seit dem 9.11.2001 als eine Bedrohung wahrnehmen.
Nicht weniger bedeutend scheint mir zudem zu sein, dass eine Migrantengeneration heranwächst, die anders als ihre Eltern, ihre Zugehörigkeit zu Deutschland und zum „Deutsch sein“ ganz anders, manchmal geradezu selbstverständlich, reklamiert. Ich erlebe das oft im Alltag und gebe zu, dass mir das immer noch schwer fällt. Das liegt an den schweren Folgen des Diktums vom „Eigenen“ und dem „Fremden“, das in meiner politischen Sozialisation sehr prägend war und noch ist, weil ich davon ausgehe, dass die Mehrheitsgesellschaft zur eigenen Legitimation diese Konstruktion braucht. Aber genau das scheint immer weniger Teile dieser Generation zu kümmern. Indem sie ihre Zugehörigkeit markieren, weil sie hier geboren sind, einen deutschen Pass besitzen oder ein neues Verständnis vom Deutschsein haben, tragen sie gewollt oder ungewollt auch dazu bei, dass sich Deutschland verändert. Die wenig ironisch gemeinte Selbstbezeichnung „DeutschPlus“ eines Netzwerkes, das Karrierewege für Erfolgskanaken ebnen will, treibt dieses Deutschsein wollen auf die Spitze. Schaut her, wir sind erfolgreich, teilen Eure Werte, bekennen uns zu unserer Verfassung und bringen auch noch ein paar Extrafeatures mit.
Überhaupt trifft es sich gut, wenn Migranten erfolgreich sind – egal ob in der Privatwirtschaft oder in der Kulturindustrie. Denn die neue starke Währung für die Zugehörigkeit ist Erfolg. Wer erfolgreich ist, wird im Mainstream gerne willkommen geheißen, weil dieses sich verändernde Land auf den Leistungswillen und dem Erfolgsstreben dieser Generation angewiesen ist, es ist ein Schlüsselfaktor für seine Zukunftsfestigkeit.
Nur, Erfolg wird einem nicht geschenkt und nicht jeder hat einen Lebenslauf, der sich wie eine Erfolgsgeschichte liest. Daher ist die Chiffre Erfolg kein Freischein für alle. Nicht für die Migrantenkids in Knästen, nicht für Arbeitssuchende Jugendliche mit Migrantionshintergrund, nicht für Prekarisierte, die auf Namen wie Mamadoo, Feyruz oder Davor hören. Wenn es inzwischen schwer fällt in den Kategorien der 90er und 00er Jahre rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung zu greifen und zu thematisieren, dann lohnt sich möglicherweise der Blick auf die neue Dimension der Hierarchisierung von Migranten, in nützliche und unnütze, bereichernde und nicht-bereichernde.
Neu ist daran die Qualität und der Umstand, dass Erfolgsmigranten diese Hierarchisierung selbst vorantreiben – nicht alle, aber viele. Erfolg mag für sie ein Antrieb sein, aber Erfolg überwindet rassistische Ausgrenzung nicht. Wenn heute ein Afroamerikaner in den USA auf rassistische Diskriminierung zu sprechen kommt, sagt ihm sein weißer Gegenüber oftmals: Was wollt ihr eigentlich? Wir haben doch einen schwarzen Präsidenten. In seiner sehr beeindruckenden, in Teilen leider auch sehr selbstverliebten Autobiografie, streift der Künstler und Bürgerbewegungsaktivist Harry Belafonte dieses Phänomen. „Dennoch haben die meisten farbigen Amerikaner noch mit Problemen zu kämpfen, die genauso gravierend sind, wie sie es vor einem halben Jahrhundert waren. Und bis heute (…) hat der Präsident noch nicht wissen lassen, ob diese Probleme für ihn von Belang sind, geschweige denn einen Plan für ihre Lösung vorgelegt. (…)“
Ein anderer wichtiger Aspekt in der Debatte jenseits des Rassismus vergangener Tage ist der Umgang mit politischem Islam, der weiter an Bedeutung gewinnt, auch in Europa und in Deutschland. Ohnehin artikuliert sich seit 9/11 Rassismus hierzulande vornehmlich als Anti-Islamismus. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, mir geht es nicht um den Glauben des Einzelnen und wie er diesen praktiziert. Mir geht es vor allem darum, warum sich so viele schwer tun, diesen politischen Islam, der in sich sehr heterogen ist, zu kritisieren, ohne rassistisch zu argumentieren oder als Affirmationskanake ein Loblied auf westliche Werte anzustimmen, um die eigene Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zu untermauern.
Ich bin fest davon überzeugt, dass man gegen den politischen Islam politisch argumentieren muss und dieses Feld in keinem Fall der Politik und selbsternannten Islamkritikern überlassen darf, weil das Konzept des politischen Islams Folgen hat, die unser Leben betreffen. Es würde unser Leben unfreier, undemokratischer, rassistischer, sexistischer, homophober und unästhetischer machen. Diese Formen repressiver Elemente verdienen vor allem eins: Widerstand. Wir werden permanent damit konfrontiert, worum es gehen könnte.
Können Sie sich vorstellen, dass es Salafisten nur darum geht, dass wir den Koran lesen und gut ist? Wohl kaum. Wenn iranische Geistliche die Fatwa nach einem Rapper in Deutschland ausrufen, ist das wohl kein inner-iranischer Kulturstreit, den wir ignorieren können. Vielleicht haben Sie auch mitbekommen, dass das Konzert von Lady Gaga in Jakarta nach Protesten von Islamisten abgesagt wurde. Nach ihrer Meinung sind Lady Gagas Auftritte „pornografisch“ und verstoßen gegen die indonesische Kultur. Sie fürchteten, Outfits und Tanzstil von Lady Gaga könnten die Jugend des Landes verderben. Wollen wir warten, bis Necla Kelek, Hendrik B. Broder oder Ayaan Hirsi Ali uns mit rassistischen Argumentationsmustern erklären, warum all das geschieht?
Weil es keine signifikante politisch-publizistische Intervention jenseits des Anti-Islamismus gegen repressive islamistische Eingriffe in unser Leben gibt, kann z. B. Hirsi Ali von „informeller Zensur“ in Europa sprechen. So geschehen jüngst einige Hundertmeter Luftlinie von hier. Ayaan Hirsi Ali bekam anlässlich des 100. Geburtstags des Verlegers Axel Springer einen mit 25.000 Euro dotierten „Ehrenpreis“. In ihrer Dankesrede machte sie sich die Argumentation von Anders Breivik zu eigen und berief sich auf das Manifest des Massenmörders. Ich zitiere: „Er sagt, weil alle Möglichkeiten, seine Ansichten öffentlich kundzutun, zensiert worden seien, habe er keine andere Wahl gehabt, als zu Gewalt zu greifen.“ Nach ihrer Rede gab es im Saal Standing Ovations.
Die Kritik des politischen Islams aus der Perspektive säkulär-progressiver Kräfte – damit meine ich explizit nicht kemalistische Laizisten – muss immer zwei Richtungen haben: Sie muss den politischen Islam und die rassistischen Islamkriterinnen und -kritiker gleichzeitig ins Visier nehmen – also gegen Repression und Rassismus argumentieren. Nur so kann diese sehr komplizierte Verschiebung des Diskurses gelingen, die keine Übung für den Einzelheinz ist.
Das wird auch nicht ohne die Medien gehen. Das ist insofern ein Hindernis, weil Medien überwiegend Teil der Probleme sind, über die ich sprach. So ging Ayaan Hirsi Alis Auftritt in Berlin nahezu unbemerkt unter. Es reichte, dass Ali eine Erklärung später abgab, in der sie festhielt, sie habe Breivik dafür weder entschuldigen, noch seine Tat in irgendeiner Art rechtfertigen wollen.
Auch Mely Kiyak entschuldigte sich öffentlich für eine Äußerung. Kiyak hatte in einer Kolumne Herrn Sarrazin als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ bezeichnet. Ein grober Fehler einer großartigen Journalistin, die diesen eben einräumte. Für die Springer-Medien war es damit längst nicht erledigt. So unterstellte Cora Stephan in der Tageszeitung DIE WELT Kiyak einen „Vernichtungswillen“ gegen Sarrazin, ohne mit einer Silbe seinen Rassismus zu erwähnen. In der rechten Blogoshäre baute sich ein Shitstorm auf, der Mely Kiyak diffamiert und zur Zielscheibe erklärt. Ich habe mich gefragt, ob mein ehemaliger Mitschüler Thorsten Goulu einer von ihnen ist, der im Netz gegen Mely Kiyak wettert. Ich habe keine Ahnung, welchen Weg er gegangen ist, wie ihm das Leben mitspielte. Es interessiert mich auch nicht. Mich interessiert, dass nun in Berlin Autoren, Journalisten, Künstler, Schauspieler eine Gegenöffentlichkeit herstellen und sich mit Mely Kiyak solidarisieren – eine solche Intervention gegen Hirsi Alis Breivik-Fantasien wäre notwendig gewesen, genau so im Fall von Sarah Kuttner, die bei einer Lesung in Hamburg über eine „Negerpuppe“ und deren „ekelerregenden Schlauchbootlippen“ sinnierte. Denn am Ende geht es – wie gesagt – darum, das Feld anderen nicht zu überlassen, auch im Wissen, dass einem sofort die Keule, man sei ein „Political Correctness“-Opfer, entgegenschlägt. Es geht um viel, aber bestimmt nicht um Political Correctness.
Dieses Hearing ist für mich in diesem Zusammenhang ein Puzzleteil. Aus vielen solcher Puzzleteile entsteht möglicherweise nicht schnell, sondern mühselig ein Bild. Es könnte ein schönes Bild werden. Die Anstrengung könnte sich also lohnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!