Kolumne von Mely Kıyak
Wer kann Angaben zum Surfbrett machen? Gibt es Zeugen für das Märchen vom NSU-Untergrund?
Vor drei Wochen veröffentlichte das Bundeskriminalamt (BKA) Urlaubsfotos der NSU-Neonazigruppe. Zwei hübsche junge Männer und eine fröhliche Frau mit Stupsnase im Campinglager. Man trinkt Wein aus Weingläsern. Beate Zschäpe mit schwarzem Kopftuch. Beate mit türkisfarbenem Kopftuch. Uwe Böhnhardt auf einem gelben Boot. Uwe Böhnhardt braun gebrannt. Uwe Mundlos im Gegenlicht. Surfen. Lachen. Rauchen. Beate. Die Haare nass und wild. 1990. 2004. 2005. Nun die Frage unserer Sicherheitsbehörden: Wer kann Angaben zum Surfbrett machen? Wer kann Angaben zum Mountainbike machen? Stille.
Gegenfrage: Wer kann Angaben zum Verbleib der Sicherheitsbehörden machen? Wer hat sachdienliche Hinweise über den Geheimdienst? Stille.
Gibt es Zeugen für die 2000 Deutsch-Türken in Kassel und einen Monat später in Dortmund, die bei ihren Schweigemärschen ihre Schilder hochhielten: Kein 10. Opfer! Das war im Frühling 2006. Stille.
Wer kann Angaben darüber machen, warum die Staatsanwaltschaft Asservate mit Spuren vom Anschlag auf ein iranisch-deutsches Geschäft in Köln vernichten ließ? Wer hat eine Ahnung, weshalb nach dem „Untertauchen“ der NSU zwischen 1998 und 2002 keine Ermittlungsergebnisse festgehalten wurden? Wer kann Angaben darüber machen, warum die Polizei Profiler engagierte, die auf einen rechtsextremistischen Hintergrund als Mordmotive hinwiesen, der Hinweis aber ignoriert wurde? Wer kann Angaben über den hessischen Verfassungsschützer Andreas T. machen, der am 6. April 2006 in Kassel um 17.01 Uhr und 40 Sekunden im Internetcafé von Halit Yozgat saß und auf seinen Lieblingsseiten surfte? Um 17.03 Uhr fand Ismail Yozgat seinen sterbenden Sohn. Der Verfassungsschützer gab später an vergessen zu haben, dass er zum Tatzeitpunkt am Tatort war. Wer kann Angaben darüber machen, weshalb Andreas T. nicht in Untersuchungshaft sitzt? Stille.
Versteht jemand, weshalb es angesichts der desaströsen Beweislast gegen die Integrität unseres Staates und seiner Sicherheitsbehörden keine Ermittlungsverfahren gegen Innenminister, Polizisten und Staatsanwälte gibt? Versteht einer die Frage nach dem Verbleib eines Surfbretts angesichts der viel drängenderen Frage nach dem Verbleib rechtsstaatlichen Handelns und dem Verdacht, dass der Ermittlungseifer unseres Sicherheitsapparates immer dann nachließ, wenn Bürger hingerichtet wurden, die nicht Helmut, Herbert oder Heiner hießen, sondern Enver, Halit oder Theodorus? Stille.
„Es gab keine heiße Spur“, verteidigen sich ehemalige Minister, keine heiße Spur in einem Land, wo allein in den letzten zwanzig Jahren 182 Mitbürger von Rechtsextremisten getötet wurden, deren Taten „fremdenfeindlich“ genannt werden. Die Opfer sind fremd und die Täter stehen uns nahe? Gibt es Zeugen für das Märchen vom NSU-Untergrund? Ein Untergrund, der aus nachbarschaftlichen Beziehungen mit Miezekatze bestand. Kann jemand Auskunft über das gesellschaftliche Klima geben, in dem Bundespräsidenten die Zugehörigkeit von Millionen Menschen öffentlich verhandeln, statt sich für deren Bürgerrechte, Wahlrecht, Demokratie und Freiheit einzusetzen? Heute, 2. Juni, in der Berliner Akademie der Künste am Brandenburger Tor: „Rassismus, NSU und die Stille im Land“.
Ihre Mely Kıyak
Die Kolumne erschien am 2./3. Juni 2012 in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung.
Seit einigen Wochen gibt es seitens von Rechtpopulist_innen und Sarrazin-Fans eine regelrechte Hetzkampagne gegen Mely Kıyak, die sich bis in das Lager der konservativen Presse zieht.
Als Reaktion auf die rassistische Kampagne gegen die Journalistin gibt es am Freitag, den 8. Juni, die Veranstaltung „LIEBE MELY KIYAK… – Ein Abend für unsere Lieblingskolumnistin: Wider die Hetzkampagne!“ im Berliner Ballhaus Naunynstraße, veranstaltet von den Fans & Friends of Mely Kıyak und dem Ballhaus Naunynstraße.