»Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs«

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Der Nationalsozialistische Untergrund und die Rolle der Geheimdienste

von Heike Kleffner (aus: »Blätter« 9/2012, Seite 72-80)

Seit dem 4. November 2011, als die Öffentlichkeit von der Existenz des rechtsterroristischen Trios „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) erfuhr, ist die öffentliche Meinung zweigeteilt: Die einen gehen davon aus, dass Ignoranz, Inkompetenz, Verharmlosung, Vertuschung und Versagen seit den frühen 1990er Jahren den Umgang von Polizei und Geheimdiensten mit extrem rechter Gewalt entscheidend prägen. Diese fatale Mischung habe auch die Entstehung des NSU und dessen Gewalttaten ermöglicht. Die anderen hingegen sind mehr oder weniger fest davon überzeugt, dass der NSU ohne Beihilfe oder Unterstützung aus dem Polizeiapparat oder den Geheimdiensten, oder aber zumindest einzelner Vertreter staatlicher Behörden, niemals so lange hätte morden können.

Aufklärung soll ein im November 2011 vom Bundestag eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss bringen. Seine zentrale Fragestellung lautet: Wie konnte es einer neonazistischen Gruppe gelingen, in den vergangenen zwölf Jahren ungehindert neun migrantische Gewerbetreibende und eine Polizistin zu ermorden, einen weiteren Polizisten lebensgefährlich zu verletzen, zwei Sprengstoffattentate mit über 20 Verletzten sowie ein Dutzend Banküberfälle zu verüben?

400 000 Blatt Papier und zwei Dutzend Zeugen und Zeuginnen haben die 22 Abgeordneten des Ausschusses in den vergangenen sechs Monaten gesichtet und gehört. „Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse“ sollen sie „Schlussfolgerungen für Struktur, Zusammenarbeit, Befugnisse und Qualifizierung der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und für eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus ziehen und Empfehlungen aussprechen“ – so lautet der offizielle Arbeitsauftrag.1] Doch die Zeit für diese gewaltige Aufgabe ist knapp bemessen: Bis zum Ende der Legislaturperiode im Sommer 2013 verbleibt weniger als ein Jahr.

Neben dem Ausschuss im Bundestag haben mittlerweile auch die Untersuchungsausschüsse in den Landtagen von Thüringen und Sachsen ihre Arbeit aufgenommen, im Herbst folgt Bayern. Und auch in Hessen dringen die Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf einen Untersuchungsausschuss.

Inzwischen liegt zudem eine erste, harsche Bilanz über das Versagen von Verfassungsschutz und Polizei in Thüringen für die Jahre 1996 bis 2003 vor – jener Zeit, in der sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ konstituiert hat.[2]

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, sowie die Präsidenten des thüringischen wie des sächsischen Landesamtes, Thomas Sippel und Reinhard Boos, traten im Juli im Zuge der NSU-Affäre zurück. Erst Beweisanträge in den Untersuchungsausschüssen und der parlamentarischen Kontrollkommission in Sachsen offenbarten, dass bei den jeweiligen Geheimdiensten bis dato unbekannte Akten und Daten mit NSU-Bezügen unzulässig vernichtet wurden bzw. im Fall von Sachsen überraschend aufgetaucht sind. Eher unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich zwischenzeitlich auch die Leiterin des Landesamtes für Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen aus ihrem Amt verabschiedet.

Eine erste Zwischenbilanz

Der Versuch, in diesen Tagen eine Zwischenbilanz der parlamentarischen Aufklärungsbemühungen zu ziehen, kann notwendigerweise nur vorläufig ausfallen. Erst Mitte August hatte der Thüringische Innenminister Jörg Geibert (CDU) eingeräumt, dass in den Aktenablagen der Thüringer Polizeidienststellen noch mehr als 150 Ordner mit Referenzen zu Neonazis aus dem Umfeld und dem direkten Unterstützernetzwerk des NSU gefunden wurden. „In den Details sehen wir nur die Spitze des Eisberges“3], betonte daraufhin Jörg Kellner, CDU-Obmann im Thüringischen Untersuchungsausschuss. Sein Resümee hat auch für alle anderen Ausschüsse Gültigkeit. Zumal sich alle parlamentarischen Aufklärungsbemühungen im Spannungsfeld laufender Ermittlungen durch das Bundeskriminalamt (BKA) und der Generalbundesanwaltschaft bewegen, die die Anklage gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe sowie mutmaßliche NSU-Unterstützer vorbereitet – das heißt die Arbeit der Ausschüsse soll die Ermittlungen nicht behindern.

Der thüringische Untersuchungsausschuss versucht derzeit noch immer, einen Überblick über die offensichtlich seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich chaotischen Verhältnisse im Landesamt für Verfassungsschutz zu gewinnen. In Sachsen wird weiter um die Frage gerungen, wie tief sächsische Polizeibeamte und Verfassungsschützer in die Fahndung und Observation im unmittelbaren NSU-Umfeld verstrickt waren. Noch nicht einmal ansatzweise wurde dabei die Frage berührt, warum der Kern des NSU zehn Jahre lang unentdeckt in der Kleinstadt Zwickau leben konnte – trotz regelmäßiger Besuche von sächsischen Neonazis aus dem Unterstützerkreis.

Der Bundestagsuntersuchungsausschuss schließlich hat sich in seinen 25 Sitzungen seit Anfang Februar 2012 zunächst insbesondere auf die polizeilichen Ermittlungen konzentriert. Im Mittelpunkt stand dabei neben der Frage, wie die Hinweise auf Täter aus der extremen Rechten abgearbeitet wurden, auch die Zusammenarbeit zwischen Bundeskriminalamt (BKA), der koordinierenden Besonderen Aufbaukommission „Bosporus“ (BAO) beim Polizeipräsidium Nürnberg und den Ermittlern vor Ort.[4] Untrennbar damit verbunden sind die Fragen nach der Kooperation von Polizei und Geheimdiensten sowie die Rolle der jeweiligen Landesämter für Verfassungsschutz und des Bundesamtes, des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und des Bundesnachrichtendienstes (BND). Schon jetzt zeichnet sich ab, dass unter anderem massives Kompetenzgerangel zwischen den Ländern und dem BKA um die Frage der Ermittlungsführung eine wirksame Zusammenarbeit verhinderte.

Fatale Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz

Bislang haben alle drei Untersuchungsausschüsse massenhaft Belege gefunden, die die These vom Versagen der Geheimdienste untermauern, aber keine für die These einer aktiven Unterstützung des NSU aus dem Sicherheitsapparat. Das Problem jedoch ist, dass inzwischen kaum jemand mehr ausschließen kann oder will, dass nicht doch noch Beweise für eine tiefergehende Verstrickung staatlicher Bediensteter in das Netzwerk des NSU auftauchen werden. Die Aussage des Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) nach der Akteneinsichtnahme der Obleute beim Bundesamt für Verfassungsschutz am 4. Juli 2012 in Berlin-Treptow, „Keiner der acht geführten V-Leute ist einer der Beschuldigten“, schränkte beispielsweise der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland ein. Er könne keine „vollständige Entwarnung“ geben, so Wieland. Geklärt werden müsse unter anderem, ob der Verfassungsschutz möglicherweise Quellen im Umfeld der NSU geführt habe, die nie in Akten dokumentiert worden seien.[5]

Für diejenigen, die davon ausgehen, dass wie in vielen anderen Fällen rechter Gewalt auch die NSU-Morde durch die Ignoranz, Inkompetenz und die Verharmlosung von militanten neonazistische Strukturen seitens der Strafverfolger und Geheimdienste ermöglicht wurden – beispielsweise in Bezug auf das militante Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“, in dem viele NSU-Unterstützer aktiv waren – gibt es schon jetzt ein Übermaß an Beispielen, die im Bundestagsuntersuchungsausschuss zutage gefördert wurden.

Besonders tragisch: Bereits nach dem ersten NSU-Mord an dem 39jährigen Nürnberger Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000 hat der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) behördenintern die Frage nach einem rassistischen Hintergrund der Tat aufgeworfen. Doch stattdessen ließen sich die Ermittler von Anfang an von der Hypothese einer unbekannten kriminellen Organisation leiten, die ihrer Vorstellung zufolge aus einem migrantischen Milieu heraus agierte. Wahlweise, und je nach Biographie, Beruf oder Aufenthaltsstatus der neun ermordeten Männer, sollte es sich dabei um eine „Blumenmafia“, „Dönermafia“ oder „Menschenschmugglerbande“, die PKK oder die „Türkische Hisbollah“ handeln.

Traumatische Demütigung der Angehörigen

Die Ehefrauen, Eltern und andere Angehörige der Mordopfer wurden über Monate und Jahre der Täterschaft verdächtigt, ihre Telefonanschlüsse abgehört, ihre PKWs verwanzt. Die Tatsache, dass die Verdächtigten keine brauchbaren Hinweise auf mögliche Täter lieferten, wurde dann mit der Existenz eines milieutypischen „Schweigekartells“ begründet. Und als nach den Morden in Kassel und Dortmund im April 2007 mehrere hundert Menschen aus den betroffenen Communities demonstrierten – und auf mögliche rechte Täter verwiesen – wurde dies medial und von den Ermittlern allenfalls am Rand zur Kenntnis genommen.

Erst im Frühjahr 2007 – nach sieben weiteren Morden und hunderten erfolglos abgearbeiteten „Spuren“ – gaben die Ermittler der BAO „Bosporus“ eine zweite sogenannte operative Fallanalyse in Auftrag. Deren Ergebnis kam dem Profil des NSU sehr nahe: Ein oder zwei Täter aus dem rechtsextremen Milieu, die aus „Türkenhass“ handeln und denen die Neonaziszene nicht effektiv genug sei, sollten für die Taten verantwortlich sein. Doch sofort wurde diese Analyse der Profiler sowohl vom BKA als auch der Mehrheit der zuständigen Sonderkommissionen in den sieben Bundesländern massiv diskreditiert. Stattdessen suchten die Ermittler noch bis ins Jahr 2011 hinein weiter nach Spuren ins Milieu der internationalen organisierten Kriminalität.

„Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, beschrieb die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, Semiya Simsek, die dadurch verursachte traumatische Situation der Angehörigen.[6] Beratungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in den neuen Bundesländern und Berlin kennen dieses Phänomen seit Jahren: Allzu oft wird Opfern von Neonaziangriffen oder rassistischen Gelegenheitstätern nicht geglaubt, wenn sie auf eine einschlägige Tatmotivation für Brandanschläge oder Überfälle hinweisen. Ihnen wurde und wird häufig eine Mitverantwortung für die erlebte Gewalt zugeschrieben: „Warum gehen Sie nachts alleine zum Bahnhof?“, „Warum müsst Ihr die Nazis immer mit Euren Kundgebungen provozieren?“ Immer wieder gibt es Fälle, in denen Strafverfolger oder politisch Verantwortliche die Täter verharmlosen: Aktivisten der extremen Rechten, die beispielsweise in Autonomen Kameradschaften organisiert sind, werden da schnell zu betrunkenen „Einzeltätern“ ohne politische Ziele und ideologisches Rüstzeug erklärt. Dazu passt auch, dass sich die gegenwärtige Bundesregierung – so wie ihre Vorgängerinnen – weiterhin weigert, die tödliche Dimension des Rechtsextremismus in ihrem ganzen Ausmaß anzuerkennen. Von den mindestens 150 Todesopfern rechter und rassistisch motivierter Gewalt seit 1990 sind lediglich 63 staatlich anerkannt.[7]

Liebgewonnene Feindbilder und die Angst vor dem Imageverlust

Zahlreiche rechte Gewalttaten sorgten seit Beginn des Jahrtausends für Schlagzeilen und füllen zwar Dutzende von Seiten in entsprechenden Aufstellungen des BKA und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Dennoch ist im Kontext der Ermittlungen zu der sogenannten „Ceska-Mordserie“ lediglich für den Nagel-Bombenanschlag des NSU in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 ein Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz aktenkundig, das einen möglichen rechten Hintergrund untersucht.

Eine möglicherweise zentrale Ursache dafür, dass die Ermittler die so genannte „Spur 195“ nach Rechts nicht verfolgten, hat der zurückgetretene Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, bei seiner Vernehmung im Bundestagsuntersuchungsausschuss benannt. Zwar hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz im September 2000 auf einer Sitzung der Bund-Länder-übergreifenden „Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer und fremdenfeindlicher Gewaltakte“ (IGR) darauf gedrungen, die Ansätze für das Entstehen eines Rechtsterrorismus“ auch als solche zu benennen. Dafür hätten unter anderem die zahlreichen Aufrufe zur Bildung einer neonazistischen „Bewegung in Waffen“ und entsprechende Schusswaffen-, Rohrbomben- und Sprengstofffunde gesprochen. Doch sowohl die Polizeibehörden der Länder als auch die Generalbundesanwaltschaft hätten sich mit Verweis „auf die Tatbestandsmerkmale des Paragraphen 129a des Strafgesetzbuches“ gegen „eine Ausweitung des Terrorismusbegriffs“ gesträubt, so Heinz Fromm als Zeuge vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss am 5. Juli 2012.

Im Klartext: Man wollte sich offensichtlich nicht von den liebgewonnenen und altbekannten Feindbildern eines Terrors von Links gegen staatliche Repräsentanten und Vertreter der Eliten verabschieden. Und zugleich wollte man offensichtlich die neuen Bundesländer vor einem Imageverlust als „gefährliche Zonen“ bewahren. Ein Jahr später kam ohnehin eine Neuausrichtung der Geheimdienstarbeit nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA hinzu.

So konnten unter den Augen von Geheimdiensten und Polizei regionale und überregionale rechte Terrorstrukturen entstehen, die gesellschaftliche Minderheiten und die demokratische Verfasstheit des Staates zu ihren Hauptfeinden erklärten und diesem Weltbild „Taten statt Worte“ folgen ließen. Davon jedoch schweigen die Verfassungsschutzberichte: Für die Jahre 2000 bis 2011 finden sich dort die immer gleichen Dementis zur Existenz von rechtsterroristischen Strukturen. Und wenn es denn einmal zu strafrechtlichen Ermittlungen kam, wurden die gut organisierten Neonazistrukturen allenfalls mit dem Vorwurf der Bildung einer „kriminellen Vereinigung“ nach Paragraph 129 StGB verfolgt – wie etwa im Fall der „Skinheads Sächsische Schweiz“ oder des „Sturms 34“ .

Das V-Leute-System

Zudem erwies sich für die Ermittler im Fall der NSU-Mordserie die Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Verfassungsschutz immer dann als frustrierend, sobald sie Anfragen nach deren Erkenntnissen über die extreme Rechte stellten – wohingegen der Informationsaustausch zur Organisierten Kriminalität und im Bereich „Ausländerextremismus“ reibungslos verlief. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür ist sicherlich das Verhalten des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen. Dessen Beamter Andreas T. geriet bei den Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat am 6. April 2007 zeitweise unter Tatverdacht, denn er war zur Tatzeit am Tatort, einem Internetcafé in der Kasseler Nordstadt. Wie der hessische Verfassungsschutz die Arbeit der polizeilichen Ermittler behinderte, beschrieb der Zeuge Gerald Hoffmann vom Nordhessischen Polizeipräsidium am 5. Juli 2012 vor dem Untersuchungsausschuss: Mit dem Verweis darauf, „da müsse man ja nur eine Leiche neben einem Verfassungsschutzbeamten legen, um das System auszuhebeln“ und dem immer wieder als Argument präsenten „Quellenschutz“ lehnte die Behörde monatelang eine polizeiliche Vernehmung von V-Leuten ab, mit denen Andreas T. am Tag der Tat Kontakt hatte.

Inzwischen lässt sich zumindest für den Zeitraum, den die parlamentarischen Ausschüsse untersuchten, also von 1992 bis 2011, zweifelsfrei sagen, dass es wohl kaum eine neonazistische Gruppe, Kameradschaft, Organisation oder Partei gegeben hat, in der nicht gleich mehrere V-Leute diversen Geheimdiensten Bericht erstatteten. Diejenigen Kritiker, die das System der V-Leute schon lange als staatliche Alimentierung neonazistischer Strukturen bezeichnen, können sich bestätigt sehen. So ist unterdessen deutlich geworden, dass in den Jahren 1999 bis 2001 der brandenburgische und der thüringische Verfassungsschutz sowie der Militärische Abschirmdienst (MAD) von V-Leuten und Informanten Hinweise auf Waffenbeschaffungen, einen ersten Überfall und Aktionen des untergetauchten Trios erhalten hatten, für die mindestens zehn Jahre Haft drohen würden, ohne dass diese Informationen zu angemessenen Maßnahmen geführt hätten.

Hinzu kam wohl in mehr als nur einem Fall eine auffällige Distanzlosigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von V-Mann-Führern und Informanten sowie ein verblüffendes Ausmaß an Inkompetenz bei der Bewertung der gesammelten Informationen. Mehrere tausend Seiten umfassen beispielsweise die Akten der „Operation Rennsteig“. Minutiös sind hier die Teilnehmer und die Tagesordnungspunkte von wöchentlichen Stammtischen des Thüringer Heimatschutzes (THS) und anderer Neonaziorganisationen ebenso aufgelistet wie zahllose Waffenfunde und Gewaltaktionen. Doch als sich das NSU-Kerntrio, das jahrelang zur Führungsspitze des THS gehörte, im Februar 1998 der Festnahme entzog und in dessen Garagen zwei Kilogramm Sprengstoff gefunden wurden, hielten Fahnder wie Geheimdienstler die drei Neonazis gleichermaßen für ein isoliertes Grüppchen ohne Rückhalt in den eigenen Strukturen.

Viele offene Fragen

Noch immer ist unklar, wie eng das Netz staatlicher Informanten um den NSU und dessen aus Dutzenden Frauen und Männern der neonazistischen Szene in Ost- und Westdeutschland bestehenden Unterstützernetzwerks tatsächlich war. Ob darüber jemals Klarheit erzielt werden wird, ist derzeit völlig ungewiss: Denn die versuchte Vernichtung von sieben, mittlerweile teilweise wieder rekonstruierten Akten am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz, die Angaben über V-Leute bei der so genannten „Operation Rennsteig“ zur Gewinnung von „Quellen“ in der thüringischen Neonaziszene enthielten, ist offenbar nicht die einzige Vertuschungsaktion. So ist inzwischen bekannt, dass am 14. November 2011 im Bundesamt noch weitere Akten über Neonazis gelöscht wurden, die unter anderem Bezüge zum NSU-Spektrum aufweisen. Nach wie vor werden in Thüringen die Akten der polizeilichen Sonderkommission gesucht, die die Fahndung nach dem Trio im Jahr 2000 führte. Und erst im Juli dieses Jahres tauchten in Sachsen knapp 100 Seiten mit Abhörprotokollen unter anderem eines Neonazis auf, der zeitweise im Verdacht stand, dem NSU Waffen beschafft zu haben.8]

Die Frage, wie und warum es zu den Aktenvernichtungen kam und wer dafür letztendlich die Verantwortung trägt, wird den Bundestagsuntersuchungsausschuss auch nach der Sommerpause weiter beschäftigen. Jeglichen Versuchen, sich dabei auf „datenschutzrechtliche Löschungsverpflichtungen“ des Amtes zurückzuziehen, hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar jedenfalls in seiner Stellungnahme vom 16. Juli 2012 eine klare Absage erteilt. Schaar verwies darauf, „dass es keine gesetzlichen Löschungs- und Prüffristen für Papierakten“ gebe. Paragraf 13 des Bundesverfassungsschutzgesetzes sehe „für personenbezogene Daten in Papierakten lediglich eine Sperrung, nicht aber eine Vernichtung oder Löschung vor.“9] Zwar ist nach Protesten der Parlamentarier seit Mitte Juli sowohl in Thüringen als auch in Sachsen und auch beim MAD zugesichert worden, keine Akten in Bezug auf Rechtsextremismus mehr zu löschen. Doch die entscheidende Frage, wer von den Vertuschungsversuchen profitieren sollte und wem sie genützt haben, bleibt derzeit weiter offen.

Mit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause werden auch die Ausschüsse im Bundestag und den Landtagen ihre Sitzungen wieder aufnehmen. Dann werden im Bundestagsuntersuchungsausschuss unter anderem der hessische Ministerpräsident und ehemalige Innenminister Volker Bouffier (CDU) zum Mordkomplex Halit Yozgat in Kassel sowie die Ermittler im Fall der am 27. April 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter als Zeugen gehört.10] Noch immer gibt es Dutzende offene Fragen zu den Morden in Kassel und Heilbronn. Erst jüngst wurde bekannt, dass zwei baden-württembergische Polizeibeamte, die zudem die ermordete Polizistin kannten, zeitweise Mitglieder der „European White Knights of the Ku-Klux-Klan“ waren. Ob es gar Verbindungen zwischen dem deutschen Ableger des Ku-Klux-Klan und Unterstützern des NSU gibt, ist ungeklärt.[11]

Hinzu kommt die anhaltende Debatte um den Umbau der Sicherheitsarchitektur: Aus Kreisen der CDU und SPD wird die Forderung nach einer Zentralisierung der Geheimdienste – mit „mehr Transparenz“ – sowie nach erweiterten Kompetenzen für das BKA laut. Demgegenüber haben sich die kleineren Oppositionsparteien noch nicht festgelegt, welche Empfehlungen sie am Ende des Bundestagsuntersuchungsauschusses aussprechen wollen. Offen ist auch noch, wann die Prozesse gegen Beate Zschäpe und mutmaßliche NSU-Unterstützer beginnen werden.

Eines jedoch zeichnet sich schon jetzt ab: Auch das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR), das schon im Dezember 2011 als eine erste Konsequenz aus der „schweren Niederlage der Sicherheitsbehörden“ (Heinz Fromm) im Fall des NSU eingerichtet wurde, hat bislang nichts dazu beigetragen, dass „dieser unerträgliche Zustand, dass wir täglich zwei bis drei rechte Gewalttaten in Deutschland haben“ (noch-BKA-Präsident Jörg Ziercke) sich verändert hätte. Im Gegenteil: Das Selbstbewusstsein und die Militanz der Neonazibewegung sind ungebrochen.

Eine tiefgreifende Verunsicherung unter Migrantinnen und Migranten

Unabhängig davon, wie die strafprozessuale und parlamentarische Aufarbeitung der Mordtaten letztendlich ausgeht, wird schon jetzt eine gravierende gesellschaftliche Konsequenz sichtbar: eine tiefgreifende Verunsicherung unter Migrantinnen und Migranten sowie all denjenigen, denen im Weltbild von Neonazis und Rassisten das Lebensrecht abgesprochen wird.

„Nach dem Pogrom in Rostock im August 1992 und den Brandanschlägen von Mölln und Solingen hat meine Generation türkischer und kurdischer Migranten zum ersten Mal das Vertrauen darin verloren, dass das Grundgesetz und die Organe des Staates uns und andere Migranten und Flüchtlinge genauso schützen wie die Mehrheitsbevölkerung“, sagt beispielsweise Ercan Yasaroglu, Sozialarbeiter aus dem Berliner Bezirk Kreuzberg. Dieser Verlust eines „Gefühls von Zugehörigkeit“ sei in den 1990er Jahren jedoch durch die gesellschaftlichen Reaktionen auf die rassistischen Gewalttaten – von Lichterketten bis hin zu selbstorganisierten Schutzgruppen für Flüchtlingsheime – zumindest ansatzweise aufgewogen worden. Doch die „Empörung ganz normaler Leute“ ist es, die Ercan Yasaroglu nun angesichts der NSU-Mordserie vermisst. „Ich habe eigentlich Reaktionen wie in den 1990er Jahren erwartet, als Hunderttausende zu Kundgebungen gegen Rassismus kamen“, sagt der 52jährige. „Stattdessen gibt es nur dieses Schweigen.“

Bei den Jugendlichen, mit denen der Sozialarbeiter täglich konfrontiert ist, hätten das Schweigen und bislang verfügbaren Informationen über die Mordserie das Misstrauen und die ohnehin vorhandenen Ausgrenzungserfahrungen erheblich verstärkt. „Schließlich können ihre Eltern, die die Welle rassistischer Gewalt in den frühen 1990ern Jahren als knapp 20jährige sehr bewusst miterlebt haben, ihnen nicht guten Gewissens sagen, dass ihre Ängste unberechtigt seien“, so Yasaroglu. Ihm – wie auch vielen anderen Migrantinnen und Migranten – ist dadurch erschreckend deutlich geworden, wie sehr sich die Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren verändert – und an rechte und rassistische Gewalt gewöhnt hat.

 


[1] Vgl. die Website des 2. Untersuchungsausschusses („Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund“), www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/ua/2untersuchungsausschuss/inde….

[2] Vgl. Gerhard Schäfer, Volkhard Wache und Gerhard Meiborg, Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, es findet sich auf https://www.nsu-watch.info/material.

[3] Vgl. NSU-Aufklärung: „Nur die Spitze des Eisberges ist in Sicht“, in: „Thüringische Landeszeitung“, 15.8.2012.

[4] Dies betrifft die Tatorte der NSU-Mordserie in Nürnberg, München, Rostock, Hamburg, Dortmund und Kassel sowie die Bombenanschläge in Köln.

[5] Vgl. Zwickauer Trio arbeitete nicht für den Verfassungsschutz, www.spiegel.de, 4.7.2012.

[6] Vgl. Merkel bittet Angehörige der Opfer um Verzeihung, in: „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 23.2.2012.

[7] Vgl. die Übersicht auf www.zeit.de/themen/gesellschaft/todesopfer-rechter-gewalt/index.

[8] Vgl. Matthias Gebauer, Innenministerium ordnete Vernichtung weiterer Akten an, www.spiegel.de, 19.7.2012; Christiane Kohl und Tanjev Schultz, SMS-Nachrichten im Büroschrank, in: SZ, 13.7.2012.

[9] Vgl. Peter Schaar, Aktenvernichtung aus Datenschutzgründen? Pressemitteilung vom 16.7.2012,
www.bfdi.bund.de/bfdi_forum/showthread.php?t=3420.

[10] Vgl. Thomas Holl, Das große Hessenquiz, www.faz.net, 2.7.2012.

[11] Vgl. Sebastian Erb und Wolf Schmidt, Viele Spuren führen zu Thomas R., in: „die tageszeitung“ (taz), 15.8.2012; Dies., NSU-Spur zum Ku-Klux-Klan, in: taz, 16.8.2012.