»Sie haben uns nur gegeben, was sie wollen. Nicht, was wir wollen.«

0

von Caro Keller und Lee Hielscher

Die Thematisierung der rassistischen Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat begann nicht erst im November 2011, als sich durch die Selbstaufdeckung des NSU die Vermutungen vieler Angehöriger bestätigte, dass es sich um rechte Morde handelte. Schon 2006 gingen über 2.000 Menschen, vorwiegend aus den sogenannten migrantischen Communities, in Kassel und in Dortmund auf die Straße, um der Ermordeten zu gedenken und um Aufklärung zu fordern. Sie trugen die Bilder ihrer Väter, Söhne und Brüder mit sich. Damals wurden die Ermordeten noch als Mitschuldige an ihrem eigenen Tod verdächtigt. Trotz der Bemühungen um Öffentlichkeit fanden diese Demonstrationen keine nennenswerte öffentliche Beachtung. Von staatlicher Seite wurden die Demonstrierenden mit Sätzen abgespeist wie: »Ich weiß, dass bei Ihnen eine große Verunsicherung stattfindet, weil es eine ganze Reihe von Gerüchten gibt, die ausländerfeindliche Hintergründe vermuten lassen, für die aber keinerlei Beleg da ist«, so ein Vertreter der Stadt Kassel auf der Demonstration. Auch antifaschistische Initiativen hörten die Stimmen der Betroffenen nicht und gingen den deutlichen Hinweisen auf einen möglichen rechten Hintergrund nicht nach.

Marginalisierung der Angehörigen
Seit 2011 gibt es kein Ausweichen mehr, was die rassistischen Hintergründe der Taten des NSU betrifft. Allerdings nur in einem engen Rahmen: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe seien EinzeltäterInnen gewesen.
Mit der nachträglichen Anerkennung als Opfer rechter Gewalt setzte sich auch eine staatliche Gedenkmaschinerie in Gang. Denn wo rechte Taten eingeräumt werden müssen, liegt internationale Aufmerksamkeit und Druck auf dem Standort Deutschland. Oft ist die Konsequenz deutsche Gedenkpolitik mit all ihren Widersprüchlichkeiten. Den Anfang machten Versprechen von PolitikerInnen im ganzen Land: Aufzuklären, nicht zu vergessen. Dies entsprach weitestgehend auch den Wünschen der Angehörigen. Schon bald verständigten sich die Bürgermeister der Tatort-Städte auf eine gemeinsame Erklärung sowie die Verlegung von Gedenksteinen.
Was sonst von kleinen Initiativen über Jahre erstritten werden muss, wurde hier von staatlicher Seite eigenständig umgesetzt. Wie heute festgestellt werden muss, jedoch nicht, um die Opfer und Hinterbliebenen anzuerkennen, sondern um die Deutungshoheit zu behalten. Bei den staatlichen Gedenkveranstaltungen wurden die Angehörigen mehr und mehr marginalisiert. Waren sie bei den ersten Gedenkfeiern noch als RednerInnen auf der Bühne – was in einigen Fällen sogar gegen die Veranstaltenden durchgesetzt werden musste –, so wurden sie in puncto Gedenksteine nicht kontaktiert. Ihre Reden wurden falsch übersetzt, konkrete Forderungen übergangen.
Das Versprechen der Aufklärung wird gebrochen und den Hinterbliebenen stattdessen eine StatistInnenrolle zugewiesen. Statt an das Geschehene in seinem ganzen Ausmaß zu erinnern, wird viel eher über Integration und Zusammenhalt gesprochen – in einem Staat, der ein mordendes Neonazinetzwerk bestens integrierte. So scheinen die staatlichen Gedenkaktivitäten eher dem Bild des Staates selbst zu dienen, als den Betroffenen.
In allen Städten, in denen der NSU mordete, gibt es – außer in Rostock und Nürnberg – inzwischen Gedenktafeln oder Gedenksteine mit einem einheitlichen Text sowie den Namen der Toten. Mehrfach wurden Tafeln mit falschen Namen oder Lebensdaten angebracht. In Rostock entschied sich die Stadt für einen eigenen Text, obwohl eine Gedenkinitiative mit Mitgliedern der Familie Turgut bereits eine Gedenktafel erstellt hatte. In Nürnberg gibt es bis heute keine offiziellen Schilder, eine Gedenkinitiative hat hier eigenständig Tafeln aufgehängt. Die Sprache der Gedenkplatten ist deutsch, eine Übersetzung ins Türkische fand nur am Rostocker Gedenkort statt – Mehmet Turgut war kurdischer Abstammung. Die Forderung nach Aufklärung hingegen wird von staatlichen Institutionen, allen Versprechen entgegen, nicht eingehalten beziehungsweise aktiv torpediert.

»Es muss auch mal gut sein« – (Staatliche) Gedenkstrategien
In Hamburg wird der Gegensatz zwischen den geäußerten Wünschen der Angehörigen und der offiziellen Gedenkpolitik am deutlichsten. Wie bundesweit, so machte auch hier die Verlautbarung des damaligen Hamburger Innensenators den Anfang, es werde alles für die Aufklärung getan. Einen Untersuchungsausschuss gibt es bis heute nicht, Aufklärungsbemühungen wurden in den dafür anberaumten Innenausschüssen und Bürgerschaftssitzungen belächelt und torpediert. Gründe für den Tatort Hamburg werden beiseite geschoben und stattdessen von einer Zufallswahl gesprochen. Statt herausgearbeitete Verstrickungen der Hamburger Neonazi-Szene mit dem UnterstützerInnenumfeld des NSU oder den institutionellen Rassismus bei den polizeilichen Ermittlungen zu thematisieren, werden ein Gedenkstein und eine Straßenumbenennung als »Bekenntnis zum NSU« präsentiert. Einen von der Stadt verlegten Gedenkstein, direkt vor dem ehemaligen Gemüseladen, in dem Süleyman Taşköprü erschossen wurde, lehnte die Familie ab. Sie wählte diesen Ort für ein eigenes Gedenken und ließ einen Stern für den Ermordeten ein.
Die nach ihm benannte Straße kommentierte seine Schwester Ayşen Taşköprü: »Für mich hat diese Umbenennung keine große Bedeutung. Was sind schon 300 Meter in irgendeiner Seitenstraße für das Gedenken an einen Menschen?« Denn nicht die Schützenstraße, wo der Mord stattfand, wurde im Juni 2014 umbenannt, sondern die parallel verlaufende Kohlentwiete, und von dieser auch nur ein Abschnitt. Bei der Umbenennung war zusätzlich der Name des Ermordeten auf den Straßenschildern falsch geschrieben – immerhin dies ist inzwischen behoben. Die eigentliche Forderung, bei einer Straßenumbenennung wenigstens die Schützenstraße umzubenennen, scheiterte aus formalen Gründen.
Die Taşköprüstraße hat heute doppelten Nutzen für Hamburg: Öffentlich kann sich mit ihr gebrüstet werden, sich der Verantwortung gestellt zu haben und damit alle Verpflichtungen den Opfern gegenüber erfüllt zu haben. Es wird gleichzeitig ein Schlussstrich gezogen und die Forderungen nach Aufklärung, die auch während der Umbenennung laut wurden, werden unterbunden. Ein Vergessen nimmt seinen Lauf, bildlich wird dies bei einem Besuch des offiziellen Gedenksteins, der inzwischen bis zur Unleserlichkeit verblasst ist.
Die Hinterbliebenen des Kasseler Mordopfers Halit Yozgat sorgten seit seinem Tod 2006 für dessen beständige Thematisierung. Im Gegensatz zu Hamburg gibt es in Hessen mittlerweile einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, dieser scheitert jedoch regelmäßig an sich selbst. Die Fraktionen sind zerstritten und unterschiedlich stark an Aufklärung interessiert. Die verantwortlichen Behörden sperren sich zusätzlich vehement dagegen, alles offenzulegen.
Familie Yozgat forderte nach 2011 eine Umbenennung der Holländischen Straße, in welcher ihr Sohn aufwuchs und den Tod fand. Sie wollten keine Halit-Yozgat-Straße, sondern eine Halitstraße in Gedenken »an alle Halits« wie es der Vater formuliert. Antifaschistische AktivistInnen benannten wiederum die Holländische Straße eigenmächtig in Halit-Yozgat-Straße um, wofür Geldstrafen wegen Beschädigung öffentlichen Eigentums fällig wurden. Nach längerem Ringen im Stadtrat wurde schließlich ein namenloser Platz in der Nähe der Todesstelle umbenannt sowie durch die Kasseler Verkehrsbetriebe der Haltestellenname um »Halitplatz« erweitert.
Auch hier scheint nicht Anerkennung, sondern das Erfüllen von Verantwortungszwängen im Mittelpunkt zu stehen: »Mit dem Halit-Platz und der Umbenennung einer Haltestelle hat die Stadt einen würdigen Ort des Gedenkens geschaffen. Eine Umbenennung der Holländischen Straße ist nicht beabsichtigt«, ließ ein Stadtvertreter verlauten. İsmail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat bringt es auf den Punkt: »Sie haben uns nur gegeben, was sie wollen. Nicht, was wir wollen.«
Die vorgebliche Hinwendung zu den Ermordeten erfüllt so eher die Funktion, einen Schlussstrich unter das Geschehene zu ziehen. Eine Thematisierung der gesellschaftlichen Zustände, die die Entstehung und Deckung des NSU ermöglichte und die Morde unaufgeklärt ließ, findet nicht statt, wie sich auch in der generellen Ausblendung einer Thematisierung des NSU in Zwickau zeigt. In dieser Stadt mordete der NSU nicht, dort war er zuhause. Zwischen seinen NachbarInnen bewegte sich das NSU-Kerntrio wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Doch davon will in Zwickau niemand etwas wissen. Ein SPD-Stadtrat sagte im Mai 2013, zu Beginn des NSU-Prozesses in München: »Wir wollen unseren Stadtteil, unsere Stadt nicht mehr mit NSU, Nazis, Terrorzelle oder rechter Gewalt in Verbindung gebracht sehen. Es muss auch mal gut sein.«
Der Blick auf den staatlichen Umgang mit dem NSU verdeutlicht, dass Anerkennung rechter Gewalt hier zum Verkennen rassistischer Zustände geführt hat. So versuchte beispielsweise die Stern-Kampagne »Eure Bombe galt auch uns« eine gesamtgesellschaftliche Lesart der NSU-Morde und Anschläge zu schaffen. Prominente posieren hier für Betroffenheit und inszenieren Opfer; der NSU-Terror wird als Angriff auf Deutschland, Weltoffenheit und die Demokratie umgedeutet. Die rassistische Dimension der NSU-Taten wie auch ihr rassistisch begründeter Ausschluss aus der Wahrnehmung und Aufklärung wird damit entnannt.

Antifaschistische Perspektiven
Was bei staatlicher Gedenkpolitik in den Hintergrund gedrängt wird, hat bei selbstorganisiertem Gedenken mehr Raum: Thematisierung des gesellschaftlichen Rassismus, die Wünsche der Angehörigen und der Betroffenen, die Forderung nach und Bemühungen um Aufklärung in Bezug auf das Neonazinetzwerk und die staatlichen Verstrickungen. Seit 2011 gab es zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen, Interventionen im öffentlichen Raum, beispielsweise durch eigenständige Straßenumbenennungen oder das Erstellen von Gedenktafeln. Es entwickelt sich an vielen Orten eine gemeinsame politische Intervention mit den Angehörigen der Mordopfer und Betroffenen der Bombenanschläge. Die Opfer in den Mittelpunkt zu rücken ist richtig und dringend notwendig. Zugleich sollte es nicht darum gehen, ein besseres Gedenken als der Staat zu schaffen und sich dafür der Stimme der Betroffenen zu bedienen. Die sporadische Aufmerksamkeit für die Betroffenen des NSU-Terrors führt vielerorts zum Mangel an einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Das Erinnern der rassistischen Anschläge muss auch immer wieder eine Thematisierung der sie ermöglichenden Zustände sein. Die jahrelange Nicht-Wahrnehmung, auch durch antifaschistische Initiativen, ist ein Teil davon. Antifaschistische Initiativen sollten sich mit dem Anspruch »den Betroffenen eine Stimme zu geben« nicht selbst überschätzen. Diese Stimme haben die Betroffenen selbst und nutzen sie, vor allem für eine gemeinsame und zentrale Forderung: Aufklärung der Morde und Anschläge, damit dies nie wieder möglich ist. Angesichts des letzten Jahres vor Gericht und in den Untersuchungsausschüssen kann festgestellt werden, dass diese Forderung dringend breiterer Unterstützung bedarf. Jeder Schlussstrich unter die jüngste deutsche Geschichte rückt damit in weite Ferne.

Zuerst veröffentlicht in: Antifaschistisches Magazin »der rechte rand« Schwerpunktausgabe NSU – Nr. 162 2016. Die ganze Ausgabe kann hier als PDF angesehen werden.