Ein Kommentar von Friedrich Burschel, 1.6.2017
Aus der sicheren Distanz von mehreren Hundert Kilometern kommt die preisgekrönte Zeit-Kolumnistin Özlem Topçu zu dem Schluss, dass der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München durchaus keine Enttäuschung sei, sondern „viel bringt. Sogar sehr viel.“ So findet Frau Topçu, dass es schon eine tolle Sache ist, dass es an der Schuld von Beate Zschäpe inzwischen – nach 366 Tagen Prozess und über vier Jahren Prozessdauer – keine Zweifel mehr gibt und die „Beweisaufnahme die Anklage in vollem Umfang bestätigt“ habe. Zum Beleg zitiert sie hierzu ausgerechnet Thomas Bliwier, einen der Anwälte von Mitgliedern der Familie Yozgat, die als Hinterbliebene des am 4. April 2006 in einem Kasseler Internetcafé mutmaßlich vom NSU ermordeten, damals 21-jährigen Halit Yozgat Nebenkläger im Münchener Verfahren sind. Gerade die bohrenden Fragen und Zweifel, die die Nebenklagevertreter im Fall Yozgat unermüdlich formuliert haben, sind bis heute ungeklärt und offen. İsmail Yozgat, Halits Vater, hat angekündigt, dass er das Urteil von München nicht anerkennen werde, solange die offenen Fragen nicht annähernd geklärt seien. Gegen den damaligen Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Andreas Temme, der – obwohl zweifelsfrei zur Tatzeit am Tatort anwesend – bis heute behauptet, nichts, aber auch gar nichts mitbekommen zu haben, läuft nun ein Strafverfahren wegen uneidlicher Falschaussage und das Londoner Forschungsteam „Forensic Architecture“ weist ihm zudem nach, dass er die Unwahrheit gesagt haben muss.
Topçu ist begeistert, dass „sich in der langen Prozesszeit gezeigt [hat], dass der NSU keine isolierte Gruppe von drei Verschworenen war. Die Gruppe hatte Helfer und Verbindungen zu rechtsextremen Netzwerken wie Blood and Honour“. Diese Erkenntnisse sind, das gesteht Topçu zu, einzig und allein der Hartnäckigkeit eines Teils der Nebenklage im Prozess zu verdanken. Dass dieses Wissen komplett der in „vollem Umfang“ nachgewiesenen Anklageschrift entgegensteht, wo bis heute von einer isolierten, von der Szene abgekapselte Drei-Personen-Zelle die Rede ist, stört Topçu dabei keineswegs.
Auch wenn ein paar „hässliche Dinge“ wie das „Versagen und die Unwahrheiten von einigen Verfassungsschutzämtern und Ermittlungsbehörden“ zutage gefördert worden seien, könne mit einem Prozessbeteiligten – mit Blick auch auf das Freitaler Terrorverfahren – die positive Einschätzung gewonnen werden, „dass der NSU-Prozess eine Sensibilisierung in vielen Amtsstuben bewirkt hat und Ermittler heute häufiger an das Motiv Rassismus denken“. Für diese Annahme gibt es weit und breit keine Bestätigung und keine Belege, im Gegenteil, es darf davon ausgegangen werden, dass die Empfehlungen des ersten NSU-Bundestagsuntersuchungsausschusses gegen den institutionellen Rassismus in keiner Weise auch nur ansatzweise umgesetzt worden sind. Das groteske Scheitern des Mammutprozesses gegen das nazistische „Aktionsbüro Mittelrhein“ wegen Pensionierung des Vorsitzenden Richters, ein völlig entpolitisiertes, von einem unerträglich schwadronierenden Richter vorgetragenes Urteil im Verfahren gegen die Nazi-Schläger von Ballstädt (Thüringen) und der Downgrade des Nauener Verfahrens vom Terror- zum normalen Strafverfahren sprechen indes eine komplett andere Sprache. Das Vorgehen und Verlautbarungen der Polizei zum Mord an Birgül D. in Duisburg am 3. Mai 2017 wecken horrible Erinnerungen an die rassistischen NSU-Ermittlungen. Weitere Beispiele sind Legion.
Aber vielleicht meint Topçu ja was völlig anderes und versucht noch aus dem Drama der Betroffenen und der Verweigerung der „lückenlosen Aufklärung“ Nektar der nationalen Selbstbespiegelung zu saugen: „In München hat das Land sich selbst weiter kennengelernt, in einen der vielen Spiegel geschaut.“
Mit ihrer Rechtsstaatseloge positioniert sich Topçu gegen eine Presseerklärung der anrüchigen „Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş“, die darin ihrer Entäuschung über den NSU-Prozess Ausdruck verleiht und für ihre Enttäuschung vor allem die Bundesanwaltschaft verantwortlich macht. Dort heißt es: „Sie [die Bundesanwaltschaft – FCB]hat zu keinem Zeitpunkt auch nur den Anschein erweckt, als ginge es ihr um umfassende Aufklärung des NSU-Komplexes. Vielmehr war sie stets darum bemüht – mit tatkräftiger Unterstützung des Gerichts, den Kreis der Verdächtigen so klein wie möglich zu halten. Alle Bemühungen der Opferanwälte, Spuren, die zu weiteren Tatverdächtigen führen könnten, nachzugehen, wurden abgeblockt oder anderweitig unmöglich gemacht.“
Dem ist in der Tat kaum etwas hinzuzufügen. Das kann Frau Topçu aber nicht so ohne Weiteres wissen, da sie seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen ward im A 101, dem bunkerartigen Saal im Strafjustizzentrum in München, wo der NSU-Prozess seit vier Jahren Dauergast ist. Dass die Bundesanwaltschaft von Beginn an auf der Engführung des Prozesses gemäß ihrer Anklageschrift und der ja angeblich widerlegten „Trio“-These besteht und dafür auch bereit ist, die etwa 100 Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit dreist zu belügen, wie im Falle des schreddernden Meisterspions im Bundesamt für Verfassungsschutz Lothar Lingen, ist ihr keine Erwähnung wert.
Topçu ist begeistert: „Folgeprozesse sind nicht ausgeschlossen“. Auch, dass die Bundesanwaltschaft derzeit die tatsächlich laufenden weiteren Ermittlungsverfahren gegen bis vor Kurzem neun weitere Verdächtige, sowie ein zehntes, ein so genanntes Strukturermittlungsverfahren, hauptsächlich dazu verwendet, unliebsame neue Erkenntnisse zu bunkern, kann ihre Freude nicht trüben.
Haarsträubende Statements des Sitzungsvertreters des Generalbundesanwalts im Münchener Prozess, Herbert Diemer, sind ihr offenbar auch nicht zur Kenntnis gekommen: Während der alte Herr der Anklage schon mal die „Alt-Verteidigerin“ Zschäpes, Anja Sturm, mit den Worten „Sie warten und schweigen still!“ abkanzelte, ließ er die Prozessöffentlichkeit kürzlich einen Blick in ein rechtsstaatliches Paralleluniversum erhaschen. Im Zusammenhang mit der Enttarnung von Stefan „Pinocchio“ Lange, des einstigen Chefs der „Blood & Honour“-Division Deutschland und nebenberuflichen Spitzels des Verfassungsschutzes im Nazi-Biotop, in dem der NSU gedieh, wiederholt Diemer einmal mehr die Theorie der „isolierten Zelle“, von der Topçu meint, sie sei widerlegt. Diemer: „Um eine Entdeckung zu vermeiden, beschränkten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ihren Kontakt in ihr früheres Umfeld auf das Nötigste“, weshalb es unwahrscheinlich sei, dass sie mit Lange Kontakt gehabt haben könnten. „Derartige skanadalträchtige Spekulationen von Medien oder sogenannten NSU-Experten“ weist Diemer zurück, schon weil es nicht in sein Weltbild passt, in dem der NSU eben diese abgekapselte Zelle sein muss und der Verfassungsschutz genannte Inlandsgeheimdienst viel zur Aufklärung des NSU-Komplexes beigetragen hat. Wörtlich aus der Mitschrift des 365ten Prozesstages am 24. Mai 2017: „Es gibt auch keinen Grund für die Annahme, das BfV könnte solche Umstände bewusst zurückgehalten haben. Es ist vielmehr so, dass die Ermittlungen in diesem Verfahren durch geheimdienstliche Informationen wesentlich gefördert wurden und die Aufdeckung ohne geheimdientsliche Informationen nicht möglich gewesen wäre.“ Hier könnte freilich ein frommer Wunsch Vater eines veritablen Hirngespinsts sein. Ansonsten wäre eine solche Aussage – nach allem, was wir über die Verstrickung des Staates in den NSU-Komplex wissen – eine beinharte Dreistigkeit.
Angesichts der weiter eklatant und wie am ersten Prozesstag ungeklärten offenen Fragen und Ungereimtheiten im NSU-Komplex, angesichts des nach wie vor dringenden Verdachts der keineswegs nur pannenhaften Verquickung staatliche Stellen in die Verbrechen des NSU durch Unterlassung, Ermöglichung und Geschehenlassen, ist, nicht enttäuscht zu sein, ein Kraftakt. Die Verbrechen des NSU, das sind ja nicht nur 10 Morde (übrigens auch von 2000 bis 2007 und nicht nur bis 2006, wie Topçu falsch schreibt), sondern auch mehrere Mordversuche, zwei angeklagte und ein weiterer Bombenanschlag und mindestens 15 Bank- und Raubüberfälle.
Die irrwitzigen Kapriolen und explosiven neuen Erkenntnisse rund um V-Mann „Primus“, Ralf Marschner, V-Mann „Tarif“, Michael See, und einen namentlich bekannten NSU-Helfer beim so genannten Stollendosen-Anschlag in Köln, die behördeninternen Blockaden etwa bei der Weitergabe wichtiger Informationen, einmal etwa vom Verfassungsschutz in Brandenburg oder einmal seitens eines hochrangigen sächsischen Polizisten an die thüringer Kollegen und Zielfahnder, haben das Gericht nicht die Bohne interessiert. Insofern darf Topçus positive Bilanz schon nur noch als mutwillige Gutgläubigkeit bezeichnet werden. Mit der Realität im Münchener Endlos-Prozess jedenfalls hat das wenig zu tun.