Kurz-Protokoll 336. Verhandlungstag – 17. Januar 2017

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An diesem Prozesstag wird zunächst geklärt, dass der Antrag der Verteidigung von Beate Zschäpe, die Gutachtenerstattung durch Prof. Dr. Saß mitzuschneiden, abgelehnt wird. Danach beginnt dieser sein psychiatrisches Gutachten über die Beate Zschäpe vorzutragen.

Sachverständiger:

  • Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe)

Der Verhandlungstag beginnt um 09:45 Uhr. Nach der Präsenzfeststellung verkündet Götzl den Beschluss, dass sämtliche Anträge der Zschäpe-Verteidiger_innen Sturm, Stahl, Heer bzgl. des Themas, die Gutachtenerstattung von Prof. Dr. Saß vollständig akustisch bzw. durch einen „berufsmäßigen Tastschreiber“ oder Stenografen aufzeichnen zu lassen, sowie der Antrag auf eine dienstliche Erklärung des SV dazu, ob er im Fall der Aufzeichnung seine Unbefangenheit tangiert sieht oder ob aus seiner Sicht als erfahrener SV sonstige Bedenken gegen eine Aufzeichnung bestehen, abgelehnt sind.
Heer verliest eine Gegenvorstellung gegen den verkündeten Beschluss. Die Gegenvorstellung argumentiert, dass eine umfassende, und damit ordnungsgemäße Ermessensausübung bei dem Beschluss nicht vorliege, wodurch eine Behinderung der Verteidigung eintreten würde.
Dann verkündet Götzl den Beschluss, dass der Antrag, den SV Saß dazu anzuhalten, sich dienstlich darüber zu äußern, ob er Erfahrungen mit solchen Aufzeichnungen hat, abgelehnt wird, und dass es ansonsten bei dem heute morgen verkündeten Beschluss „sein Bewenden“ hat.

Götzl: „Dann würden wir zu Ihrem Gutachten kommen, Herr Prof. Dr. Saß.“ Saß sagt, er werde ein Gutachten erstatten zu den psychopathologischen Voraussetzungen für die Fragen der Schuldfähigkeit, einer evtl. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und einer evtl. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Er stütze sich an Material auf die Beobachtungen und Informationen aus der Teilnahme an der „weit überwiegenden Zahl der Hauptverhandlungstage“.
Auf die Frage, ob in der vorliegenden Sache ein Gutachten auch erstattet werden kann, wenn keine Möglichkeit zu einer persönlichen Exploration der Angeklagten bestand, wolle er wegen der Einwände der Verteidigung näher eingehen. Von der Angeklagten bzw. ihrer damaligen Verteidigung sei vor Beginn der Hauptverhandlung die Mitwirkung an einer Exploration schriftlich abgelehnt worden. Saß: „Ein psychiatrisches Untersuchungsgespräch mit einem Wechselspiel von gezielten Explorationsfragen und unmittelbar darauf gegebenen Antworten stellt selbstverständlich die beste Basis für eine Begutachtung dar.“ Allerdings komme es im forensischen Kontext immer wieder vor, dass eine Mitwirkung nicht möglich ist, insbesondere wenn es um die Frage einer Sicherungsverwahrung gehe.
Saß: „Natürlich besitzen im vorliegenden Fall wegen der fehlenden Mitwirkung an einer Untersuchung die Informationen und Wahrnehmungen aus der Hauptverhandlung eine besondere Bedeutung. Dazu gehören auch die äußeren Aspekte des individuellen Verhaltens und der beobachtbaren Interaktion mit anderen Personen. Von besonderem Interesse ist dabei die Psychomotorik, wobei dieser Begriff das Gesamt der durch psychische Vorgänge geprägten Bewegungen umfasst. Es wird also davon ausgegangen, dass die Psychomotorik das Resultat einer Integration von psychischen und motorischen Funktionen darstellt, weshalb sich psychische Sachverhalte mehr oder weniger auch im Bewegungsspiel widerspiegeln. Im Alltagsverständnis wird dies mit dem Begriff der Körpersprache umschrieben.“
Dies fließe in die Beurteilung der Persönlichkeit ein und ergänze sonst vorliegende Informationen etwa aus Biographie mit familiärem, schulischem und beruflichem Werdegang, und aus Zeugenschilderungen von Bezugspersonen und Beobachtern, die die Betroffene in früherer Zeit erlebt haben.
Saß sagt, er stütze sein Gutachten auf ein klinisch-idiographisches Beurteilungskonzept. Dabei gehe es um eine erklärende Rekonstruktion der biographischen Vorgeschichte, die Beschreibung der Persönlichkeit mit ihren Besonderheiten, Stärken und Schwächen und um die Entwicklung der sozialen Orientierungen. Ferner gehe es um die Rekonstruktion der delinquenten Vorgeschichte, eingebettet in die jeweiligen biographischen Zusammenhänge, um die Entwicklung von Handlungsbereitschaften, Werthaltungen und kriminogenen Bedürfnisse. Schließlich sei, so Saß, auch eine Tatanalyse angestrebt, aber wenn dazu keine Informationen vorliegen würden, sei das schwer. Am Ende sei dann auch die seitherige Entwicklung seit den Taten und das gegenwärtige Persönlichkeitsbild zu berücksichtigen.
Saß: „Jetzt möchte ich auf die gesundheitliche Vorgeschichte eingehen.“ Was die medizinische Anamnese angehe, so hätten sich weder aus den Akten noch aus den Informationen in der Hauptverhandlung mit zahlreichen Zeugen, die Zschäpe früher gekannt haben, irgendwelche Hinweise für wesentliche, in diesem Verfahren relevante Gesundheitsstörungen ergeben. Auch nach eigener Einschätzung habe Zschäpe früher keine erheblichen körperlichen oder psychischen Erkrankungen durchgemacht. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Zschäpe je an einer relevanten psychischen Störung gelitten hätte.
Schließlich solle es keinerlei Drogenkonsum und keinen Missbrauch von Medikamenten gegeben haben. Auch für eine klinisch bedeutsame Störung der Impulskontrolle hätten sich keine belastbaren Anhaltspunkte ergeben. Es sei jedoch auf die Frage eines problematischen Alkoholkonsums einzugehen, so Saß: „Dieser wurde allerdings in diesem langen Verfahren erstmals in der Erklärung von Frau Zschäpe am 09.12.2015 thematisiert. Vor Prozessbeginn und bis dahin gab es, wie ich das sehe, weder aus Zeugenschilderungen noch im sonstigen Inhalt des Verfahrens Hinweise auf Alkoholprobleme.“
Saß: „Jetzt würde ich auf die Biographie und die frühe Entwicklung eingehen.“ Zschäpe habe, so Saß, in ihrer Erklärung vom 09.12.2015 ihren „komplizierten Lebensgang“ nachgezeichnet. Saß gibt kurz die Darstellung Zschäpes zu ihrem Werdegang wieder bis zur Angabe, dass zur Wendezeit 1989/90 die Schwierigkeiten der Mutter größer geworden seien, sie, Beate Zschäpe, habe von ihr keinerlei Geldmittel mehr bekommen und zu dieser Zeit den Respekt vor ihr verloren. Saß: „Eingeflochten in diese Darstellung hat Frau Zschäpe die kleine Bemerkung, dass sie wegen der Geldknappheit damals begonnen habe, sich innerhalb des Freundeskreises an kleineren Diebstählen zu beteiligen. Hier sieht es für den psychiatrischen Beobachter so aus, als zeige sich zum ersten Mal eine gewisse Tendenz von Frau Zschäpe, die Verantwortlichkeit für auftretende Probleme und eigenes Verhalten wie auch Fehlverhalten anderen Personen oder äußeren Umständen zuzuordnen. Im Übrigen gibt es hinsichtlich der Formulierung ‚kleinere Diebstähle‘ offenbar auch eine Tendenz zum Bagatellisieren, also zum Herabspielen der damaligen Handlungen, durch Frau Zschäpe.“
Bei allen Belastungen durch das Verhalten der Mutter und ihre unstete Lebensführung habe die Beziehung zur Großmutter Apel offenbar einen deutlich positiveren Aspekt dargestellt. Zschäpe selbst habe ihre enge emotionale Bindung an die Großmutter deutlich gemacht: habe sich nach den vorliegenden Informationen als Omakind bezeichnet, ihre Liebe zur Oma betont und ihre Sorgen um deren Gesundheit, solle auch gesagt haben, sie wolle sich für das, was alles geschehen sei, bei ihr entschuldigen und habe anklingen lassen, wie viel ein Verlust der Großmutter für sie bedeuten würde.
Saß: „Ein ähnliches Gewicht hat für Frau Zschäpe nach ihrer Darstellung nur die Beziehung zu den beiden Uwes besessen, die sie als ihre Familie bezeichnete und deren möglicher Verlust für sie in der Zeit des Untertauchens ebenfalls mit großen Befürchtungen verbunden gewesen sei. Sie hat ja in diesem Zusammenhang den Begriff ‚emotionales Dilemma‘ gebraucht. Die genannten Bedingungen des Aufwachsens dürften für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Ich-Identität zweifellos eine gewisse Belastung bedeutet haben. Ähnliches wird auch in der Aussage der Mutter Böhnhardt deutlich, wonach die Freundin ihres Sohnes nie über ihren Vater habe sprechen wollen und auch in Bezug auf die Mutter Sorgen wegen ihrer finanziellen Rückstände und des drohenden Verlustes ihrer Wohnung gehabt habe. Beate Zschäpe habe sich dessen geschämt und nicht gern darüber geredet. Auf Bitten des Sohnes habe sie dann für eine Zeit lang bei Familie Böhnhardt einziehen dürfen. Also durchaus eine schwierige Lebenssituation damals.“
Dann gibt Saß kurz den schulischen Werdegang Zschäpes wieder, wie er aus ihren Zeugnissen bekannt ist. Saß: „Insgesamt lässt sich daraus wie aus den sonstigen Informationen die Einschätzung ableiten, dass die Intelligenz der Probandin wohl im Durchschnittsbereich liegt. Hierauf deuten auch die befriedigenden Noten bei der Abschlussprüfung in der Schule sowie später in der Gärtnerinnenausbildung hin.“ Der abgebrochene berufliche Werdegang Zschäpes zur damaligen Zeit könne, so Saß weiter, als ein Indiz für Unsicherheit, Identitätsprobleme und Fehlen langfristiger Ziele angesehen werden. Es müsse allerdings berücksichtigt werden, dass viele junge Leute in Zschäpes damaligen Umfeld unter den Bedingungen der Wendezeit und der damit verbundenen Umbrüche sich in einer ähnlichen Lage befunden haben.
Saß gibt die Aussage Brigitte Böhnhardts wieder, dass Zschäpe traurig gewesen sei, weil es mit dem Wunsch, Kindergärtnerin zu werden, nicht geklappt habe, dass Zschäpe die Lehre als Gärtnerin mit einer gewissen Zufriedenheit absolviert und erfolgreich abgeschlossen habe, dass Zschäpe aber anschließend leider keine Arbeit gefunden habe und sich evtl. später als Floristin habe weiterbilden wollen. Saß: „In ihrer Selbstdarstellung hat Frau Zschäpe sich ähnlich geäußert, wobei allerdings aus psychiatrischer Sicht auffällt, dass ihre Schilderung recht nüchtern, sachlich, emotionsarm und unpersönlich wirkt. Über Ziele, Wünsche, Hoffnungen und Träume, über tiefergehende Gemütsbewegungen, langfristige Ziele und Wertvorstellungen war weder aus ihren eigenen Erklärungen noch, wenn man versucht hat Zeugen dazu zu befragen, etwas zu erfahren. Die wenigen Anhaltspunkte, etwa was in den persönlichen Erklärungen von Frau Zschäpe gesagt wurde, ergeben ein eher karges, intellektuell anspruchsloses Bild von Bildung und Ausbildung, vom geistigen Leben, den Interessen und Freizeitbeschäftigungen. Dies trifft offenbar auch zu bei dem, was bekannt geworden ist – das ist ja nicht viel – über die spätere Phase des Lebens im Untergrund. Insgesamt aber sind die genannten Umstände m.E. nicht als Hinweis auf gravierende soziale Belastungen und Defizite oder gar eine psychische Gestörtheit zu werten.“
Zu den Sozialkontakten Zschäpes habe, so Saß, habe Stefan Apel Zschäpe als gesellig geschildert, sie sei gern weggegangen und immer lustig gewesen, habe viel gelacht, sei auch auf die Leute zugegangen und sei ein offener und selbstbewusster Mensch gewesen. Sie habe stets mehr Männerfreundschaften gehabt und sei im Umgang robuster gewesen als normale Frauen.
Mit deutlich negativeren Zügen sei Zschäpe vom Zeugen Ha. geschildert worden, der allerdings keinen Hehl daraus gemacht habe, dass man sich gegenseitig nicht gemocht habe. Ha. habe Zschäpe auf der einen Seite als freundlich und selbstbewusst im direkten Kontakt bezeichnet, sie sei ein anerkanntes Mitglied der Gruppe gewesen, dabei auch lustig und amüsant. Weiter habe Ha. sie als nicht dumm, nicht gutgläubig und als ein vernunftbegabtes Wesen beschrieben. Ha. habe auch davon gesprochen, dass sie einen unterschwellig aggressiven Eindruck gemacht habe.
Saß setzt fort, dass André Kapke angegeben habe, Zschäpe als netten Menschen kennengelernt und geschätzt zu haben, Politik sei damals auch bei ihr ein tragendes Thema gewesen. Zu den Hauptthemen habe Zschäpe laut Kapke ihre Meinung gehabt, habe diese kundtun und gut artikulieren können, welchen Standpunkt sie habe. Frau J. beschrieb ein exklusives Verhältnis unter den drei Personen; sie seien damals als ‚die Drei‘ bezeichnet worden, man habe sie als verschworene Gemeinschaft wahrgenommen. Aus Sicht dieser Zeugin war Frau Zschäpe in Kontakt und Verhalten aufgeschlossen, eine sehr selbstbewusste Person, freundlich und auch witzig, mit imponierendem Selbstvertrauen.
Saß setzt fort, dass über den ersten Freund, Matthias Ri., der Cousin geäußert habe, dieser sei eine Jugendliebe von Zschäpe gewesen, danach habe es dann die Beziehung zu Mundlos und Böhnhardt gegeben, wobei der Cousin vermutet habe, wahrscheinlich habe ihre Art die Männer zusammengehalten, sie habe die Jungen „im Griff“ gehabt: „Auch dies würde, wenn die Beobachtung zutraf, für Stärke und Selbstbewusstsein der jungen Frau im Kontakt nach außen und gegenüber männlichen Partnern sprechen.“
Im Übrigen werde, so Saß, in der Erklärung Zschäpes vom 09.12.2015 die Beziehung zu Uwe Mundlos seines Erachtens „recht kühl und unpersönlich abgehandelt“. Saß weiter: „Auch ihr Verhältnis zu Uwe Böhnhardt, das sie an einigen Stellen als Liebe bezeichnet hat, wurde von ihr ansonsten nicht in tieferer, differenzierter oder gefühlsbezogener Weise geschildert. Sie sprach von ‚blinder Liebe‘, ein Ausdruck, der mir recht floskelhaft und pauschal erscheint. Zumal es ja so ist nach allgemeiner Lebenserfahrung, dass ‚blinde Liebe‘ in der Regel nicht über Jahrzehnte besteht, kann sicherlich nicht ganze Jahrzehnte betreffen [phon.]. Man muss auch sagen, dass dieser Ausdruck, ‚blinde Liebe‘, in einem gewissen Gegensatz zu Schilderungen von Zeugen aus den Urlauben steht.“ Nur einmal sei dort von einem engeren Verhältnis zu ‚Gerry‘ gesprochen worden, so Saß.
Ansonsten würden die Schilderungen Böhnhardts durch Zschäpe recht ambivalent erscheinen: „Wobei sie zum einen ihre feste Bindung an ihn betont, andererseits charakterisierte sie ihn aber auch als aggressiv, jähzornig und zu Tätlichkeiten neigend. Bemerkenswert erscheinen mir die Ausführungen von Frau Zschäpe in der Erklärung vom Dezember 2015 über ihre Absicht bei der Anmietung der Garage an der Kläranlage in Jena im August 1996. Dies sei, als Uwe Böhnhardt sich damals wegen ihres ‚Klammerns‘ getrennt habe, ein Versuch gewesen, um den verlorenen Kontakt zu den beiden Uwes und insbesondere zu Uwe Böhnhardt wieder herzustellen. Ein solches Verhalten könnte für ihre starke Bindung an Uwe Böhnhardt sprechen. Möglich erscheint aber auch, dass es sich um eine Kaschierung anderer Beweggründe durch die Konstruktion einer mehr oder weniger plausiblen Version gehandelt hat.“
Saß sagt, er wolle zur Beurteilung übergehen: „Ich würde jetzt auf die politisch-ideologische Entwicklung von Frau Zschäpe eingehen und da ist zu sagen, dass offenbar die Beziehungen zu Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mit ihren jeweiligen Freundeskreisen die entscheidende Bedeutung besaßen. Damit war der Kontakt zu einer Szene verbunden, deren vorherrschende Haltungen und Überzeugungen von der Angeklagten mit dem Ausdruck ’nationalistisches Gedankengut‘ wohl etwas euphemistisch umschrieben worden ist.“ Saß sagt, es gebe dazu Darstellungen anderer Zeugen, Berichte, Vermerke, Urteilsfeststellungen und Abbildungen.
Saß: „So dass es insgesamt doch in meinen Augen deutlich rechtsradikal ausgerichtete Kreise gewesen sind, in denen es nicht nur um Musikkonzerte und Demonstrationen ging, sondern auch um politische Agitation, militante Auseinandersetzungen und ideologisch motivierte Aktionen.“
Saß weist auf die „in der Hauptverhandlung reichhaltig thematisierten Vorgänge“ hin: z.B. Puppentorso, Bombenattrappen, Rudolf-Heß-Märsche, ausfälliges Benehmen beim Besuch im Konzentrationslager Buchenwald, Propagandaschriften, nationalsozialistische Symbole, das Mitführen von Schlag- und Stichwaffen und anderen Waffen.
Saß: „Wenn es dann in diesen Kreisen zu einer zunehmenden Handlungsbereitschaft und zum Aufbau potenter Organisationen kam, so hat Frau Zschäpe dies ganz wesentlich mit dem Einfluss von Tino Brandt ab Mitte der 90er Jahre begründet. Nach ihr ist die Kameradschaft Jena erst aktiv geworden, nachdem Tino Brandt zur Gruppe gestoßen ist, ihr Zusammenleben habe sich grundlegend geändert, er sei der Mittelpunkt aller Aktionen gewesen, habe Geld zur Verfügung gestellt, organisiert, Initiativen ergriffen und Propagandamaterial mit nationalistischem Inhalt beschafft. Wenn Frau Zschäpe formuliert, man könne sagen, ohne Tino Brandt wären diese ganzen Unternehmungen nicht möglich gewesen, so sieht das für mich wieder so aus, als finde sich hier eine Tendenz, auf eine Außenverursachung hinzuweisen.“
Persönliche Anteile an den potenziell gefährlicheren Aktionen, die nach und nach geplant und durchgeführt wurden, habe Zschäpe weitgehend im Dunklen gelassen, sie habe lediglich eingeräumt, im Dezember 1996 verschiedene von Böhnhardt mit Schwarzpulver versehene [phon.], jedoch nicht zündfähige Briefe an einige Adressaten in Jena geschickt zu haben; bei anderen von Mundlos und Böhnhardt initiierten Aktionen zwischen April 1996 und Dezember 1997 habe sie angegeben, zwar teilweise beteiligt gewesen zu sein, aber man habe dabei lediglich die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhöhen wollen, ohne dass eine tatsächliche Gefahr für Leib und Leben gegeben haben solle. Saß: „Insgesamt klangen m.E. auch bei diesen Angaben von Frau Zschäpe Neigungen zur Verharmlosung und zur Verlegung der Verantwortlichkeit nach außen an. Im Einzelnen ist hierzu hinzuweisen etwa auf die Darstellung der frühen Diebstähle und der verschiedenen Aktionen ab Mitte der 90er Jahre, auf die Waffen in der Wohnung, die auf Böhnhardt zurückgegangen seien, auf das Anmieten der Garage und das Wissen um deren Inhalte und auf die Rolle Tino Brandts.“
Saß sagt dann, er werde im nächsten Abschnitt eingehen auf die Entwicklung von Zschäpe während der Zeit im Untergrund. Informationen aus dieser Zeit seien naturgemäß deutlich spärlicher, so Saß.
Saß sagt, es gebe an Zeugen zu diesem Thema 1. die Gruppe der Personen, die freundschaftlich, kameradschaftlich oder durch Szenezugehörigkeit mit den drei Untergetauchten verbunden und mehr oder weniger auch zu Unterstützungshandlungen bereit gewesen seien.
„Allerdings muss man sagen, dass bei der Mehrzahl der so genannten Szenezeugen, die möglicherweise über Kontakte in dieser Zeit hätten reden können, das Auskunftsverhalten ungemein zurückhaltend war. Zum Verhältnis der drei untergetauchten Personen untereinander hieß es in den in die Hauptverhandlung eingebrachten Vernehmungen des Herrn Gerlach, dass die beiden Uwes oben gewesen seien und gleichberechtigt, wobei er allerdings Frau Zschäpe ebenfalls als gleichberechtigt bezeichnete, ferner als durchsetzungsstark, kein Typ, der sich unterordnen würde. Sie habe genauso viel zu sagen gehabt wie jeder andere in der Gruppe. Ansonsten haben eigentlich alle Zeugen, soweit ich das sehe, Harmonie, Freundlichkeit und kameradschaftlichem Umgang geschildert. Allerdings hat es im Unterschied dazu auch Ausführungen von Frau Zschäpe gegeben, dass es etwa zwischen Frühjahr 1998 und Sommer 2001 wiederholt zu Tätlichkeiten durch Uwe Böhnhardt gekommen sei, der sie geschlagen habe, wenn ihm bei einer verbalen Auseinandersetzung die Argumente ausgegangen seien.“
Saß nennt dann den 2. Bereich von Informationen über die Dreiergruppe: die Urlaubsbekanntschaften bei den Campingreisen nach Norddeutschland 2007 bis 2011. Saß: „Die Zeugenaussagen liefen darauf hinaus, dass die drei Personen bei den jeweils mehrwöchigen Urlauben sehr nett, freundlich und harmonisch miteinander umgegangen seien. Gegenüber den jeweiligen Nachbarn auf den Campingplätzen verhielten sie sich offenbar kontaktfreudig, hilfsbereit, gesellig, unterhaltsam und insgesamt ohne irgendwelche Auffälligkeiten.
Ein 3. Bereich seien dann, so Saß, die Schilderungen der Hausmitbewohner. Auch dort sei übereinstimmend ein insgesamt unauffälliges Verhalten der drei Personen geschildert worden. Saß: „Dabei erschien Frau Zschäpe ihren Nachbarn nicht nur als kontaktfreudig, unkompliziert und unbefangen, darüber hinaus sei sie auch gegenüber sozial oder finanziell schwächeren Personen hilfsbereit und unterstützend gewesen. Frau Zschäpe sei eigentlich immer fröhlich gewesen, auch habe sie damals gesünder ausgesehen als jetzt. Über Privates habe sie wenig gesprochen. In der Wohnung sei nur sie gewesen und gelegentlich sei ein Wohnmobil vor der Tür gestanden. Ärger,
Reibereien und Verstimmungen habe es nicht gegeben. Auffällige Alkoholisierungen wurden nicht geschildert.“
Resümierend, so Saß, ergebe sich dazu, dass „aus forensisch-psychiatrischer und psychopathologischer Sicht keine gravierenden Auffälligkeiten bekannt geworden sind“. Offenbar sei in all den Jahren ein „Muster des wohl freundlichen, aber doch vorsichtig zurückhaltenden und persönliche Verwicklungen meidenden Verhaltens“ beibehalten worden. Saß: „Dabei konnten sich die drei Personen und insbesondere die zumeist den Kontakt pflegende Frau Zschäpe offenbar mit großer Konsequenz und ohne größere Patzer an die Regeln eines Lebens unter falschen Namen halten. Hinsichtlich der wahren Interessen und Aktivitäten wurden, soweit erkennbar, erfolgreich die Gebote der Heimlichkeit, des Verbergens, des Verschleierns und des Täuschens eingehalten. So entstand in ähnlicher Weise, wie es bei den verschiedenen Campingurlauben geschildert worden war, gemäß einer Formulierung des Zeugen [Olaf] B. über Frau Zschäpe, der Eindruck einer lieben, guten Nachbarin, die allerdings von ihrer Gesinnung nichts preisgegeben habe.“
Saß sagt, dass das die Angaben zur Zeit des Lebens im Untergrund gewesen seien und jetzt noch wenige Bemerkungen zu den verfahrensgegenständlichen Vorfällen kämen. Zum Komplex der Tatvorwürfe in der Anklageschrift gebe es hierzu Ausführungen von Zschäpe selbst „nach langem Schweigen“: die Erklärung vom 09.12.2015 und „Antwortserien“ auf vom Gericht gestellte Frage sowie die persönlichen Erklärungen vom 29.09.2016 und zuletzt vom 10.01.2017. Saß: „Bei all dem muss zunächst für den Gutachter offen bleiben, wie diese Angaben über sich selbst und deren Wahrheitsgehalt einzuschätzen sind. In ihren schriftlichen Erklärungen bzw. Antworten hat Frau Zschäpe durchgängig die zentrale Rolle der Verstorbenen sowohl für das Untertauchen in das 13-jährige Leben im Verborgenen wie auch für sämtliche Straftaten betont. Ferner hat sie auf ihre emotionale und finanzielle Abhängigkeit von den Partnern verwiesen. Wiederholten Überlegungen von ihr, dieses Leben durch Sich-Stellen zu beenden, hätten die beiden Uwes ab Ende des Jahres 2000 Suiziddrohungen entgegengehalten.
Vor allem hob Frau Zschäpe in ihren Erklärungen hervor, an der Vorbereitung, Planung und Durchführung der verschiedenen Aktionen nicht beteiligt gewesen zu sein. Sie räumte lediglich schriftlich ein Wissen auch um vorgesehene Raubüberfälle und eine Teilhabe an ihrem finanziellen Nutzen ein. Ferner hat sie eingehend die schließliche Brandlegung am Ende dieser Periode geschildert, wobei sie auch in diesem Zusammenhang darauf abhob, dass dies der Erfüllung von Wünschen bzw. einem Auftrag der Verstorbenen entsprochen habe.
Nach der Darstellung in der Erklärung der Angeklagten vom 09.12.2015 habe sie auf die Mitteilung insbesondere des ersten Tötungsdelikts im Jahr 2000 und später dann auch der weiteren Fälle mit Erschrecken, Entsetzen, Unverständnis und Ablehnung reagiert. Ihrer Absicht, sich nun, da sie in einen Mord verwickelt sei, der Polizei zu stellen, hätten die beiden Partner entgegengehalten, sich dann zu erschießen.“
Saß weiter: „Im Laufe der Zeit, als die Partner ihre Handlungen fortgesetzt und das gegebene Versprechen auf Beendigung des Tötens nicht eingehalten hätten, ist es nach ihren Angaben bei ihr immer mehr zu einem resignierten Rückzug gekommen. Wenn sie weiterhin formuliert: ‚Ich wollte es nicht hören‘, so könnte dies, ein Zutreffen unterstellt, auf – im Alltagsverständnis – Verdrängungsversuche und den Wunsch hindeuten, sich den von ihr angegebenen Belastungen durch Nichtwissen zu entziehen.
Saß: „Resümierend ist zu sagen, dass die Beurteilung in vielem davon abhängt, wie die Äußerungen von Frau Zschäpe hinsichtlich der Tatbeiträge der einzelnen Personen in der Dreiergruppe einzuschätzen sind. Sie selbst hat zwar erklärt, dass sie mit heftiger Ablehnung reagiert habe, wenn sie, stets nachträglich, von den Tötungen erfahren habe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Erklärungen, mit einer kleinen Ausnahme, nur schriftlich abgegeben wurden. Allerdings wirken ihre Formulierungen hierzu für den psychiatrischen Leser recht formal und unpersönlich. Ganz im Vordergrund stehen ihre eigene Situation, die Kritik am Verhalten der Partner, die Verantwortungszuschiebung nach außen und die sorgfältige Beschreibung von Umständen, die entlastend wären, wenn man sie zugrundelegt. Weniger entstand in der Lektüre dagegen der Eindruck einer authentischen Auseinandersetzung mit den abgelaufenen Geschehnissen, mit den Empfindungen der von den Taten betroffenen Personen und ihrer Angehörigen oder den Konsequenzen für deren Leben. Aus psychopathologischer Sicht würde das bedeuten: Es ergeben sich Hinweise für egozentrische, wenig empathische und externalisierende, also Verantwortung nach außen schiebende Züge.“

Es folgt eine Unterbrechung, um 17:10 Uhr geht es weiter. RA Heer verliest eine Stellungnahme. Die im Antrag der Verteidigung auf Aufzeichnung und in der Erwiderung mehrfach erwähnten Umstände, die die Verteidigung „besorgen“ ließen, dass ihr ein Mitschreiben und die gedankliche Verarbeitung und somit eine effektive Verteidigung nicht möglich sein werden, seien zu Tage getreten, so Heer. Einem nicht anwesenden SV ließen sich die Anknüpfungstatsachen so nicht ordentlich mitteilen. Der Verhandlungstag endet um 17:14 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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