Kurz-Protokoll 331. Verhandlungstag – 20. Dezember 2016

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An diesem Verhandlungstag geht es in erster Linie erneut um die anstehende Erstattung des Gutachtens durch Prof. Dr. Saß und um sein schriftliches vorläufiges Gutachten. Die ‚Alt-Verteidiger_innen‘ von Beate Zschäpe stellen u.a. den Antrag ihn „wegen fachlicher Ungeeignetheit“ von seiner Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens zu entbinden.

Der Besucher_innenbereich ist ungewöhnlich gut gefüllt. Unter den Besucher_innen befinden sich auch mehrere Neonazis, darunter der schon im NSU-Prozess als Zeuge gehörte Thomas Gerlach. Einer der Neonazis hat zwei Kinder dabei, einen Jungen und ein Mädchen. [Minderjährige sind nach Informationen von NSU-Watch im NSU-Prozess eigentlich nicht als Zuschauer_innen zugelassen; auf Nachfrage wird mitgeteilt, dass Richter Götzl persönlich verfügt habe, dass diese Kinder teilnehmen dürfen.] Vor Beginn beschweren sich Pressevertreter, dass die Neonazis auf der Presseseite sitzen, obwohl viele Presseleute sich, wie vorgesehen, vor 09:15 Uhr angestellt haben. Die Nazis werden von Justizangestellten aufgefordert, sich Plätze auf der anderen Seite des Besucher_innenbereichs zu suchen. Einige tun das, zwei bleiben sitzen.

Götzl geht zur Präsenzfeststellung über. Zschäpe-Verteidiger RA Borchert ist heute da, auch Prof. Saß ist da.

Götzl: „Dann zunächst die Feststellung zum Selbstleseverfahren, angeordnet mit Beschluss vom 13.12.2016: Die erkennenden Richter sowie die Ergänzungsrichter haben vom Wortlaut des Briefes von Frau Zschäpe an Robin Schmiemann Kenntnis genommen, die übrigen Beteiligten hatten hierzu Gelegenheit.“ Zschäpe-Verteidigerin RAin Sturm: „Kurze Stellungnahme dazu: Wir widersprechen der Verwertung aus den bereits mitgeteilten Gründen, auf die wir uns vollumfänglich beziehen.“
NK-Vertreter RA Hoffmann: „Es wird zu der gerade benannten Beweisaufnahme, Kopie des Briefes, Stellung genommen: In ihrer Einlassung stellt sich die Angeklagte Zschäpe als eine schwache, unselbstständige, abhängige Person dar und versucht damit zu erklären, warum sie trotz ihrer angeblichen Ablehnung der Taten diese nicht verhindert und sich nicht von Mundlos und Böhnhardt getrennt hat.“ In ihrem Brief zeichne, so Hoffmann, die Angeklagte demgegenüber ein Bild einer selbstbewussten Frau, der es wichtig ist, Macht bzw. Kontrolle auszuüben. Die Angeklagte zeige, dass sie sich auch Männern gegenüber keinesfalls unterordne. Hoffmann beginnt mit einem Zitat aus dem Brief : „‚Ich sehe dich als meinen kleinen Gockel.‘ [phon].“
Sturm: „Der Kollege Hoffmann beabsichtigt offenkundig, aus dem Brief in seiner Stellungnahme zu zitieren, was sicherlich unter normalen Umständen zulässig wäre. Hier ist es nicht zulässig, da es die Persönlichkeitsrechte unserer Mandantin betrifft. Es gibt nicht ohne Grund das Selbstleseverfahren. Ich beantrage für den Fall, dass der Kollege Hoffmann weitere Zitate haben sollte, die Öffentlichkeit auszuschließen für die Dauer der Verlesung der Erklärung.“
Götzl verkündet den Beschluss, dass für die Verhandlung über den Ausschluss der Öffentlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, weil die Öffentlichkeit auszuschließen sei, wenn ein Beteiligter den Ausschluss beantragt. Götzl: „Dann werden wir um 10:25 Uhr in nichtöffentlicher Sitzung fortsetzen.“ Um 10:15 Uhr müssen alle Besucher_innen den Saal verlassen. Gegen 11:30 Uhr dürfen die Besucher_innen wieder in den Saal, die Verhandlung ist zu diesem Zeitpunkt unterbrochen.
Um 12:23 Uhr geht es in öffentlicher Sitzung weiter. Götzl: „Dann setzen wir fort in öffentlicher Verhandlung. Dann wird der nichtöffentliche Teil wiederholt, soweit es um die Abgabe einer Erklärung geht: Herr Rechtsanwalt Hoffmann, eine Erklärung wird nicht abgegeben, ist das richtig?“ [Eine Antwort ist auf der Empore nicht zu vernehmen, vermutlich bejaht Hoffmann das.]

Götzl: „Wir würden dann zur Anhörung des Sachverständigen kommen, aber Sie hatten angekündigt, dass Sie einen Antrag dazu stellen. Bitte schön! Haben Sie, Herr Rechtsanwalt Heer, den Antrag schriftlich?“ Zschäpe-Verteidiger RA Heer: „Wird übergeben.“ Dann verliest RA Heer den Antrag, Prof. Dr. Saß gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO „wegen der in dem vorläufigen Gutachten vom 20.10.2016 zum Ausdruck kommenden fachlichen Ungeeignetheit“ von seiner Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens zu entbinden. Hilfsweise beantragt Heer, ein methodenkritisches Gutachten einzuholen zum Beweis der Tatsache, dass das Vorgutachten von Saß nicht den anerkannten wissenschaftlichen Standards für ein forensisch-psychiatrisches und kriminalprognostisches SV-Gutachten genüge. Heer regt an, hierzu Prof. Dr. Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität Bochum als SV zu bestellen. Außerdem beantragt er hilfsweise, das dem Antrag beigefügte, von der Verteidigung eingeholte methodenkritische Gutachten von Faustmann vom 18.12.2016 zu verlesen, zum Beweis der Tatsache, dass das Vorgutachten von Saß „schwere methodische Fehler“ aufweise. Für den Fall, dass das Gericht dennoch beabsichtigen sollte, Saß in der Hauptverhandlung zu hören, beantragt er, dessen Vernehmung zurückzustellen, einen methodenkritischen SV zu bestellen und zu laden, um diesem anhand der Teilnahme an der Vernehmung von Saß die Anknüpfungstatsachen für die Erstattung eines methodenkritischen Gutachten zum Beweis der Tatsache der Mängelbehaftung des Gutachtens zu vermitteln. Wiederum hilfsweise beantragt er, der Verteidigung binnen einer angemessenen Frist die Möglichkeit zu eröffnen, zu diesem Zweck zu der Anhörung von Saß selbst einen SV zu laden und einen entsprechenden Beweisantrag vorzubereiten und zu stellen. Insoweit gebiete die gerichtliche Aufklärungspflicht auch, ggf. eine kontroverse fachliche Diskussion des zu bestellenden bzw. selbst zu ladenden methodenkritischen SV mit Saß zu ermöglichen.
Als Vorbemerkung führt Heer aus, dass die Verteidigung nicht bezweifle, dass Saß wissenschaftlich, wie auch praktisch als anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie gilt
und über langjährige Erfahrung verfügt. Die generelle Qualifikation eines SV sei aber nicht maßgeblich, sondern die Art und Weise seiner Befassung mit der zu begutachtenden Fragestellung; diese sei vorliegend mit schweren Mängeln behaftet. Es sei ihnen – Heer, Stahl und Sturm – auch bewusst, dass es sich bei dem Gutachten vom 20.10.2016 um ein vorläufiges Gutachten handelt und für die Urteilsfindung allein das mündlich in der Hauptverhandlung zu erstattende Gutachten maßgeblich ist. Der Zweck eines in vorläufigen Gutachtens bestehe aber gerade darin, sich mit dem für nicht hinreichend sachkundige Verfahrensbeteiligte in der Regel schwerlich zugänglichen folgenden mündlichen Gutachten kritisch auseinanderzusetzen. Der Sachverständige solle im Vorgutachten gerade erkennen lassen, welche Empfehlungen zu erwarten sind, worauf diese basieren und welche Methodik er seinem Gutachten zugrundelegen wird: „Sofern sich ein Sachverständiger nicht Zweifeln an seiner Sachkunde aufgrund einer gravierenden Widersprüchlichkeit aussetzen will, wird er sein mündliches Gutachten allenfalls ausführlicher und aktueller gestalten, in den grundsätzlichen Fragestellungen, Grundannahmen und der angewandten Methodik aber nicht von dem vorläufigen Gutachten abweichen, so dass dieses durchaus bereits vor der eigentlichen Gutachtenerstattung Grundlage für die prozessuale Auseinandersetzung sein darf und muss.“
Heer kommt dann zu den „fachlichen Unzulänglichkeiten des Vorgutachtens “ und geht zunächst auf die fehlende Exploration ein. Saß habe in seinem Vorgutachten zu der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, zum Zustand von Zschäpe sowie zu den Behandlungsaussichten Stellung genommen, obwohl eine Exploration von Zschäpe nicht erfolgt ist. Damit genüge dieses Vorgutachten nicht den Mindeststandards für ein forensisch-psychiatrisches Gutachten, weil Saß über keinen genügenden psychischen Befund, sondern lediglich über ein „Gemenge aus psychischen Befindlichkeiten“ verfüge, die zudem noch – worauf der SV selbst zwar hinweist, selbiges dennoch nicht unterlasse – von seiner subjektiven Wertung geprägt seien. Saß habe mittels des Vorgutachtens verdeutlicht, dass auch das mündliche Gutachten nicht den Mindestanforderungen an ein forensisch-psychiatrisches Gutachten entsprechen werde und zudem keine brauchbaren Ergebnisse zu erwarten seien, weil sich Zschäpe einer Exploration nach wie vor verweigere und sich der SV daher nur einen „ferndiagnostischen und damit unzureichenden persönlichen Eindruck von ihr“ habe verschaffen können.

Götzl: „Soll denn sogleich zu den Anträgen Stellung genommen werden?“ Bundesanwalt Diemer: „Wir werden zu den einzelnen Punkten zum geeigneten Zeitpunkt und an geeigneter Stelle Stellung nehmen, aber vorab: Eine ausgiebige und ausführliche Öffnung der Angeklagten hätte natürlich die Grundlage erweitert. Gleichwohl ist es nicht unmöglich, sich ein Bild von ihrer psychischen Situation [phon.] zu verschaffen. Das sind Gesichtspunkte [phon.], mit denen ein Gutachter umgehen muss und kann.“ Saß sei ein geeigneter Gutachter, so Diemer. [phon.] Die Geeignetheit von Saß im konkreten Fall könne aber erst beurteilt werden, wenn er sein ausführliches Gutachten erstattet hat und auch Gelegenheit hatte auf die Methodenkritik einzugehen.
NK-Vertreter RA Scharmer: „Ja, ich würde auch kurz Stellung nehmen wollen. Es ist ja durchaus aus meiner Sicht nachvollziehbar, wenn man als Verteidigung auch mal eine absolute Minderansicht vertritt und die darlegt, das ist an sich kein Kritikpunkt: Ohne Exploration keine Begutachtung, ohne Begutachtung keine Sicherungsverwahrung. Das würde faktisch dazu führen, dass man die Sicherungsverwahrung abschafft. Denn wer würde sich dann noch explorieren lassen? Das würde ich durchaus unterstützen, aber das hat mit der faktischen Rechtsprechung bis hin zu BGH und EGMR [phon.] nichts zu tun und führt zu einem Verlust der Rechtsrealität. Man kann das so vertreten, aber dann müsste man sich schon mit den Entscheidungen [phon.] auseinandersetzen und sagen, warum man ihnen nicht folgt. Wenn man sagt, das vorläufige Gutachten habe schwere Mängel, weil die Verhaltensbeobachtung subjektive Wertungen enthält: In welchem Gutachten ist das nicht so? Jedes Gutachten enthält subjektive Wertungen. Und zweitens, dass man die Anknüpfungstatsachen bewertet. [phon.] Letztlich ist das alles eine Frage der Beweiswürdigung und natürlich ist es so, dass eine Begutachtung ohne Exploration der Angeklagten wesentlich kritischer zu werten ist als eine mit Exploration. Wir sollten jetzt Prof. Dr. Saß sein Gutachten erstatten lassen und man kann dabei ja auf die Kritik eingehen. Das andere ist doch ohnehin die rechtliche Frage. Es ist kein Geheimnis, Sie werden es wissen, dass der 3. Strafsenat des BGH 2014 gesagt hat: Sicherungsverwahrung scheidet aus Rechtsgründen aus. Ich denke, es wäre jetzt zu entscheiden, dass wir mal vorankommen.“ Götzl: „Wir werden morgen fortsetzen, wir werden den Antrag beraten. Dann wird die Hauptverhandlung unterbrochen und fortgesetzt morgen um 9:30 Uhr.“ Der Verhandlungstag endet um 15:26 Uhr.

Kommentar des Blogs NSU-Nebenklage, hier.

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