Während der Plädoyerphase des Prozesses werden hier aktuell und fortlaufend Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Diese Zusammenfassungen sind auch auf unserer Protokoll-Seite unter dem jeweiligen Termin zu finden. Dort werden dann durch die jeweiligen Protokolle ersetzt werden.
Tageszusammenfassung 411. Verhandlungstag – 08. Februar 2018
Neunzehnter und letzter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Das erste Plädoyer des heutigen Tages hielt Rechtsanwalt Serkan Alkan, der einen Betroffenen des Nagelbombenanschlags des NSU in der Kölner Keupstraße am 09. Juni 2004 vertritt. Auch Alkan wies auf die verheerenden Folgen der polizeilichen Ermittlungen zum Anschlag hin. Sein Mandant habe „detailliert geschildert, wie verängstigt man in der Keupstraße gewesen ist, aber nicht hauptsächlich wegen des Anschlags, sondern wegen der Ermittlungen“, zu deren Opfer man schnell habe werden können. Man habe es daher auf der Keupstraße vermieden, miteinander über den Anschlag zu reden, was aber für die Verarbeitung des Anschlags wichtig gewesen wäre. Alkan kritisierte, dass „eine Vielzahl von Zeugen aus dem Umfeld der Angeklagten (…) von einer Art verfahrensangepasster Generalamnesie“ geprägt gewesen seien, einem Krankheitsbild, das offenbar nur bei diesem Personenkreis auftrete. Rechtsanwalt Alkan: „War der institutionelle Rassismus, den es ohne Zweifel gegeben hat und nach wie vor gibt, für die Morde und Sprengstoffanschläge verantwortlich? Sicherlich nicht, er hat aber dazu geführt, dass die Taten nicht früher aufgeklärt worden sind und die Opfer des NSU über ein Jahrzehnt hinweg als Täter und Schwerkriminelle behandelt worden sind.“ Alkan: „Institutioneller Rassismus ist für mich als Deutscher mit Migrationshintergrund eine Bezeichnung für einen Umstand, den man immer wieder gespürt hat, aber nicht in Worte fassen konnte. Es wird sicherlich keinen meiner Kollegen mit Migrationshintergrund geben, der nicht eine derartige Situation bereits erlebt hat, die ein sogenannter ‚Biodeutscher‘ in der Form nicht erlebt. Es sind die Muster, die sich festgesetzt haben, nach denen gehandelt wird, ohne dass man sich vielleicht sogar bewusst ist, dass man jegliches Maß an Objektivität verloren hat.“
Dann hielt Yvonne Boulgarides, Ehefrau des am 15. Juni 2005 in München vom NSU ermordeten Theodoros Boulgarides, ihr Plädoyer. Sie begann mit dem Verweis auf ein Zitat von Albert Einstein: „Man soll nie aufhören zu fragen.“ Die angeblich „lückenlose Aufklärung“ sei den Betroffenen so viele Antworten schuldig geblieben: „Bis heute möchte ich wissen, warum das Ansehen meiner Familie in der Öffentlichkeit derart demontiert wurde. Hat man uns in die Täterrolle gedrängt, um unsere unangenehmen Fragen zum Verstummen zu bringen? Oder befanden sich die Behörden tatsächlich auf einem, für mich nicht nachvollziehbarem, Irrweg? Wie kam es, dass so viele an den Ermittlungen beteiligte Zeugen bei ihren Vernehmungen von einem epidemieartigen Gedächtnisverlust befallen wurden? Wieso erhielten V-Männer und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden nicht proaktiv eine umfassende Aussagegenehmigung? Wieso wurden und werden diese Leute, die ganz offensichtlich bei der Ausübung Ihrer Pflicht kläglich versagt haben, geschützt? Warum wurde dieser Schutz nicht den Opfern und ihren Familien zuteil? Wie viele Opfer wären uns erspart geblieben, wenn die beauftragten Staatsorgane ihre Arbeit ehrenhaft und pflichtbewusst erledigt hätten? Warum wurden trotz laufender Ermittlungen immer wieder Tausende von Aktenseiten geschreddert? Warum wurden zahlreiche V-Personen und mutmaßliche NSU-Unterstützer bis heute nicht angemessen vernommen? Wo sind all die, die durch ihr fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln diese Verbrechen ermöglicht haben? Warum haben sie keine Konsequenzen zu befürchten? Warum werden sie sogar – wie Lothar Lingen der vorsätzlich Akten vernichtet hat – aktiv vor Strafverfolgung geschützt? Es wäre die Aufgabe der entsprechenden Staatsorgane gewesen, der Wahrheitsfindung zu dienen. Leider muss ich an dieser Stelle von einem kompletten Organversagen sprechen.“ Der NSU-Prozess ähnele einem „oberflächlichen Hausputz“, Man hätte aber auch die „Teppiche“, unter die vieles gekehrt worden sei, hochheben müssen. Dass auch nach Prozessende unter diesen Teppichen noch Schmutz liegen wird, sei den „Traditionslinien einer paranoiden, menschenverachtenden Ideologie geschuldet“, die lediglich Tod und Leid hervorgebracht habe. Boulgarides: „Die Chance auf einen Bruch mit diesen Traditionslinien haben die Verantwortlichen durch die Verhinderung einer umfassenden Aufklärung verpasst.“
Sie wolle, so Yvonne Boulgarides weiter, auf einen besonderen Menschen zu sprechen kommen, der in den letzten Jahren ein Teil der Familie geworden sei: Rechtsanwalt Yavuz Narin. Boulgarides: „Auf eine für uns bemerkenswert selbstlose Weise hat er nicht aufgehört Recherchen voranzutreiben und uns als seiner Familie und Mandanten viele Fragen zu beantworten und uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ich weiß, dass seine unermüdliche investigative Arbeit maßgeblich zur Aufklärung vieler Ungereimtheiten beigetragen hat.“ Sie wies darauf hin, dass Narin ihr gegenüber bereits im Frühjahr 2011 von einem offensichtlichem Zusammenhang der damals sogenannten „Döner-Morde“ und dem Kölner Nagelbombenattentat berichtet habe. Auch Narins weitere Ermittlungsergebnisse bzgl. der Taten seien für sie derart schlüssig gewesen, dass sie Narin das Mandat erteilt habe. „Es wundert mich heute nicht mehr, dass ich unmittelbar nach der Verpflichtung von Herrn Narin Besuch von einem Ermittler der ‚Soko Theo‘ bekam. Dieser beschrieb mir Herrn Narin als äußerst dubiosen Menschen und riet mir, die Mandatserteilung zu revidieren. Sein Besuch hat genau das Gegenteil bei mir bewirkt.“ Sie wies zudem darauf hin, dass gegen Yavuz Narin Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien, u.a. wegen „Geheimnisverrats“: „Dazu möchte ich folgendes sagen: Geheimnisse die dazu dienen, Verbrechen und desaströses Fehlverhalten zu vertuschen, sind nicht schützenswert!“ Yvonne Boulgarides erinnerte auch an Nebenklageanwältin Angelika Lex: „An dieser Stelle möchten wir Angelika Lex gedenken, die nach schwerer Krankheit verstorben ist und leider nur einen Teil der Strecke mit uns zurücklegen konnte. Auch Dir, Angelika, und deiner Familie gilt unser Dank für das Engagement.“
Über die Anwälte sei, so Yvonne Boulgarides, ein persönliches Gespräch mit dem Angeklagten Carsten Schultze zustande gekommen: „Herrn Schultze haben wir in diesem Gespräch als einen Menschen erlebt, der sein Mitwirken zutiefst bereute und dem das eigene Gewissen bereits den größten Teil seiner Strafe auferlegt hat. Jemanden, der über ein Unrechtsbewusstsein verfügt und der zur Reue fähig ist. Eigenschaften, die wir bei den anderen Angeklagten in all der Zeit beim besten Willen nicht ausmachen konnten. Wir wünschen uns, dass ihm sein Strafmaß die Möglichkeit gibt, sein Leben in positivere Bahnen zu lenken.“
In bewegenden Schlussworten erinnerte Yvonne Boulgarides dann an Theodoros Boulgarides: „Ich weiß, dass mein Mann gern gesehen hätte, wie seine kleinen Töchter zu Frauen herangewachsen sind. Wie gern er seine Mädchen zum Traualtar geführt hätte oder wie stolz er gewesen wäre, als seine Enkeltochter geboren wurde. Ich weiß auch, wie viele der hier beteiligten Nebenkläger geliebte Menschen verloren haben oder anderes Leid erfahren mussten. Aber ich weiß auch, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Eines aber können wir tun: Nicht aufhören zu fragen. Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen. Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist. Dann müssen auch alle anderen hinsehen.“
Es folgte das Plädoyer von Yavuz Narin. Narin sagte, dass seine Kolleg_innen aus der Nebenklage bereits vieles ausgeführt hätten: „Was immer ich jetzt noch sage, es wäre doch unvollständig – genau wie dieser Prozess.“ Seine Worte, so Narin, könnten nicht annähernd das Leid, die Verdächtigungen und die Demütigungen beschreiben, denen seine Mandantinnen über all die Jahre ausgesetzt waren. Die Welt habe sich von einem Tag auf den anderen von seinen Mandantinnen abgewandt: „Und trotz dieser plötzlichen Einsamkeit habt Ihr über all die Jahre immer zu Theo gestanden, habt an ihn geglaubt und habt darauf vertraut, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht kommen würde. Ihr habt in jeder Sekunde mehr Rückgrat, Stolz und vor allem mehr Größe bewiesen als alle Angeklagten und alle von plötzlicher Generalamnesie befallenen Zeugen zusammen. Rückgrat und Größe – das sind die Eigenschaften, die wir während dieses Verfahrens vermisst haben. Sie sind jedoch die Voraussetzung dafür, eigene Fehler einzugestehen, ernsthaft zu bereuen und um Verzeihung zu bitten. Gesehen haben wir hingegen Zeugen, die sich vor ihrer Verantwortung wegducken. Menschen ohne Rückgrat, Feiglinge und Schreibtischtäter. Rädchen im Getriebe einer beispiellosen Mordserie, die ihrerseits auf kleingeistigem und ewig gestrigem Gedankengut von selbsternannten Opfern beruht, die sich ernsthaft einbilden, für den Erhalt der ‚deutschen Nation‘ relevant zu sein.“
Hier im Gerichtssaal seien allzu viele Fragen offen geblieben, so Narin, viele sogenannte Erklärungen seien bis heute nicht plausibel, unzähligen Hinweisen sei nicht ausreichend nachgegangen worden: „Wir, und ich denke, hier spreche ich im Namen vieler meiner Kolleginnen und Kollegen, haben getan, was wir konnten, und doch waren wir in unserer anwaltlichen Funktion nicht in der Lage, mehr zu bewirken, weil wir keine Strafverfolgungsbehörde sind.“ Als er im November 2011 von der Existenz des NSU erfahren, habe Yvonne Boulgarides, die er damals seit einem halben Jahr vertreten und der er von seiner Hypothese einer mordenden und bombenlegenden Combat-18-Zelle erzählt habe, gesagt: „Jetzt wird der Verfassungsschutz Akten vernichten.“ Er habe geantwortet: „Vielleicht. Aber wenn man ein Loch in eine CD bohrt, kann man immer noch die Musik hören.“ Narin: „Und so ist es: Heute haben wir die Gewissheit, dass man in der Lage gewesen wäre, die Taten des NSU zu verhindern. Wir haben die Gewissheit, dass wir und dieses Gericht bis zum heutigen Tag von den Verfassungsschutzbehörden belogen werden. Wir haben die Gewissheit, dass zahlreiche V-Personen und Verfassungsschutzmitarbeiter bis heute vor Strafverfolgung geschützt werden. Wir haben also die Gewissheit, dass die lückenhafte Aufklärung der Mentalität von Amtsträgern geschuldet ist, denen nicht klar ist, was unseren Staat, unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung ausmacht. Wir haben die Gewissheit, dass Menschen unsere Verfassung schützen wollen, die den Verfassungskern nicht verstanden haben.“
Narin weiter: „Worüber wir außerdem Gewissheit haben ist, dass der NSU weitaus mehr Unterstützer in der Nazi-Szene hatte, als die Bundesanwaltschaft uns weismachen will.“ Am Beispiel der möglichen Ausspähung der Synagoge in Berlin im Mai 2000 widersprach Narin der „Trio“-Theorie der Bundesanwaltschaft. Der Zeuge hatte neben Beate Zschäpe drei weitere Personen beobachtet, von denen er eine als Uwe Mundlos identifiziert habe. Bei der anderen
männlichen Person handele es sich höchstwahrscheinlich um Jan Werner. Man müsse nur eins und eins zusammenzählen, um die Triothese zu verwerfen. Ermittlungen zu diesem Thema durch die Bundesanwaltschaft habe es bis Oktober 2016 nicht gegeben: „Als das Gericht infolge meines Beweisantrags zur Synagogenausspähung weitere Ermittlungen zu dem Sachverhalt anordnete, antwortete Gordian Meyer-Plath, ehemaliger V-Mann-Führer von ‚Piatto‘, heute in seiner Funktion als Präsident des LfV Sachsen, mit Schreiben vom 16. Dezember 2016 persönlich, leider seien die G10-Protokolle wie alle ’nicht mehr benötigten personenbezogenen Daten‘ vernichtet. Warum einzelne SMS-Nachrichten von Jan Werner aus den betreffenden Tagen erhalten sind, wird nicht näher erläutert. Im selben Monat erfuhr man aus dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags allerdings auch, dass die Bundesanwaltschaft selbst Beweismittel zum Beschuldigten Jan Werner – trotz des Vernichtungsmoratoriums des Bundesinnenministeriums – vernichtet hatte. Die Erklärung lautete, die Bundesanwaltschaft, die das Ermittlungsverfahren gegen Jan Werner führt, habe Jan Werner nicht in Verbindung mit dem NSU gebracht, obwohl dieser wenige Wochen vor der Beweismittelvernichtung als Zeuge hier in diesem Saal geladen war.“ Zschäpe hingegen, so Narin, sei beim Vernichten von Beweismitteln weniger gründlich gewesen: „Denn in der ausgebrannten Wohnung in der Frühlingsstraße wurden Protokolle der Beschuldigtenvernehmung von Jan Werner aus dem von der Bundesanwaltschaft geführten Landser-Verfahren aufgefunden. Wie das im Untergrund doch so isolierte Trio an diese Unterlagen vom 17.01.2002 gekommen ist, bleibt ein Rätsel.“
Es sei, so Narin, nur eine Frage der Zeit ist, bis die „fehlenden Puzzlestücke im NSU-Komplex“ bekannt werden. Hinsichtlich der hier angeklagten Personen und Taten habe die BAW im Übrigen sehr gute Arbeit geleistet, so dass er sich ihren Ausführungen nur anschließen könne: „Schade nur, dass sie hinsichtlich ihrer mangelhaften Ermittlungsleistungen zu weiteren NSU-Unterstützern süffisant darauf verweisen musste, wir Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage hätten unseren Mandantinnen und Mandanten ‚Hintermänner an den Tatorten‘ versprochen. Verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, das ist nicht wahr! Ich habe meinen Mandantinnen vielmehr erklärt, dass es bereits ein Versprechen gibt. Meine Mandantinnen sitzen hier, weil sie die Einhaltung dieses Versprechens fordern. Des Versprechens, das unseren Staat, unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Es geht ihnen um das Versprechen, das unsere freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie im Kern ausmacht. Das Versprechen, das Leben und die Würde der Rechtsunterworfenen zu achten und zu schützen. Das vornehmste Versprechen, auf dem unsere
Verfassung gründet, und auf das wir Juristinnen und Juristen und auch Sie, verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, vereidigt sind. (…) Das, verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, ist das einzige Versprechen, das ich mit meinen Mandantinnen je thematisiert habe.“ Zum Abschluss seines Plädoyers wandet sich Rechtsanwalt Narin an den Senat und appellierte an ihn, unbequem zu sein: „Hinsichtlich der angeklagten Taten ist durch die Bundesanwaltschaft und durch meine Kolleginnen und Kollegen alles gesagt. Haben Sie den Mut, auch auszusprechen, was dieser Prozess nicht leisten konnte, wo er unvollkommen bleiben musste. Haben Sie den Mut, nicht so zu tun, als sei alles in Ordnung. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Senat ein Urteil fällen wird, das der Revision standhält. Ich darf an Sie appellieren: Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat!“
Mit dem Schlussvortrag von Rechtsanwalt Narin sind sämtliche Plädoyers der Nebenklage gehalten. Nach den Verzögerungen durch die Verteidigung in den vergangenen Wochen hat die Fortsetzung der Plädoyers an den letzten beiden Verhandlungstagen wieder deutlich gemacht, um was es im NSU-Prozess eigentlich geht. Die Plädoyers der Nebenklage erinnerten an die Opfer des NSU, sie gaben der Sicht der Angehörigen und Betroffenen deutlich Raum. Und: „Die Nebenklageplädoyers machten die historische Rolle und gesellschaftliche Relevanz des Prozesses deutlich. (…) Mit den Plädoyers nahmen die Nebenkläger_innen – persönlich und/oder über ihre Vertreter_innen – noch einmal die Gelegenheit wahr, in einem offiziellen Rahmen aktiv Einfluss auf die Aufklärung des NSU-Komplexes zu nehmen. (Sie) sind damit auch der Maßstab, an dem sich eine kritische Beschäftigung mit dem Thema NSU und weitere Aufklärungsbemühungen in Zukunft werden messen lassen müssen. Sie sind das beste Mittel gegen Bemühungen, etwa der BAW, die Aufklärung des NSU mit dem in Kürze zu erwartenden Urteil für beendet zu erklären. Sie sind die detaillierte und pointierte Ausformulierung der Forderung ‚Kein Schlussstrich!‘.“ (zitiert aus Lotta Magazin #69)
Einschätzung des Blogs „NSU-Nebenklage“.
Zusammenfassung 410. Verhandlungstag – 07. Februar 2018
Achtzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Sah es zunächst so aus, als würden die Nebenklage-Plädoyers auch an diesem Verhandlungstag nicht fortgesetzt werden, konnten schließlich doch noch drei Plädoyers gehalten werden. Zunächst aber verlas Richter Götzl den Beschluss des Senats, dass die Beanstandungen der Sitzungsleitung im Rahmen der Schlussvorträge der Nebenklageanwälte Schön und Reinecke (wegen deren Strafforderungen) als unzulässig zurückgewiesen werden. Mehrere Verteidiger beantragten eine Unterbrechung und Prozessbesucher_innen erwarteten bereits die nächsten Gegenvorstellungen und/oder Befangenheitsanträge. Doch als es dann nach ca. einer Stunde weiterging, konnte zunächst OStA Weingarten kurz die bereits gestellten Anträge der Bundesanwaltschaft und deren Begründung durch „Bezugnahme“ auf die Ausführungen im BAW-Plädoyer wiederholen. Und danach konnte Nebenklageanwalt Manuel Reiger sein Plädoyer vortragen.
Reiger vertrat dabei Rechtsanwalt Khubaib-Ali Mohammed. Dessen Mandant war Betroffener des Nagelbombenanschlags des NSU am 09. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße. Der Schlussvortrag, so Reiger, sei eine Weiterführung des Vortrags von Rechtsanwalt Matt. Mohammeds Mandant war als syrischer Christ nach Deutschland geflohen und habe sich, so Reiger, erhofft, hier nicht mehr wegen seiner Herkunft oder Religion verfolgt zu werden; hier habe er sich sicher gefühlt – bis zum 09. Juni 2004, bis zum 04. November 2011. Reiger sagte, es sei immer wieder darum gegangen, dass es hier im Prozess um die Schuld- und Rechtsfolgenfrage geht: „Aber erlauben Sie mir den Widerspruch: Es ging um mehr, um viel mehr.“ Es sei um die Rolle der Ermittlungsbehörden gegenüber den Opfern rechter Gewalt gegangen, um das Auge mit dem Ermittlungsbeamte Migrant_innen betrachten, um den „Graubereich“ bei den Nachrichtendiensten. Auch nach fünf Jahren Prozess habe der Verdacht staatlicher Verwicklung nicht vollständig ausgeräumt werden können: „Nein, er drängt sich geradezu auf.“ Die Justiz – und damit meine er den Senat und die Anwält_innen der Nebenklage – habe unermüdlich versucht, Antworten für die Mandant_innen, aber auch die Gesellschaft zu finden. Reiger: „In meiner Auflistung fehlen die Vertreter des GBA. Das ist kein Zufall und ich habe sie nicht vergessen. Meine Kollegen haben über ihre Rolle viel gesagt, ich habe mich entschieden, mich eines Kommentars zu enthalten.“ In der Folge machte Reiger Ausführungen zur juristischen Frage der Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung bei lebenslanger Freiheitsstrafe.
Es folgte dann das kürzeste in der Reihe der Nebenklage-Plädoyers: Nebenklagevertreter RA Adnan Menderes Erdal schloss sich mit einem Satz dem Schlussvortrag des GBA an.
Danach verlas Nebenklageanwältin Barbara Kaniuka ihren Schlussvortrag. Sie vertritt die Tochter des am 29. August 2001 in München vom NSU ermordeten Habil Kılıç. Kaniuka stellte zunächst fest, dass es in ihrem Plädoyer auch um das gehen werde, was dieser vierte Mord des NSU bei den Hinterbliebenen angerichtet hat und wie sich ihr Leben verändert hat. Sie sei sich bewusst, dass der Eindruck entstehen könne, „das doch alles schon zu kennen“. Kaniuka: „Auf den ersten Blick mag das auch stimmen. Aber in Wahrheit sind es keine Wiederholungen. Und zwar deshalb nicht, weil wir hier von singulären Schicksalen reden. Jeder einzelne Nebenkläger, den die Morde oder Sprengstoffanschläge des NSU getroffen haben, hat seine eigene Geschichte. Bei jedem dieser vielen unterschiedlichen Menschen haben die Taten individuelle Spuren hinterlassen – mal stärker, mal weniger stark, aber jeder ist auf seine Weise gezeichnet. Und deshalb ist nach den zahlreichen Schlussvorträgen, die Sie bisher gehört haben, zwar sehr vieles, aber noch nicht alles gesagt.“ In dieser Hauptverhandlung, so Kaniuka, hätten nicht nur die Opfer ein Gesicht und die Hinterbliebenen eine Stimme bekommen. Die Verhandlung habe auch dazu beigetragen, die Opfer zu rehabilitieren und ihre Würde wiederherzustellen: „Sicher nicht die Hauptaufgabe einer strafrechtlichen Hauptverhandlung, aber ein aus meiner Sicht nicht unbedeutender Nebeneffekt.“
Kaniuka ging dann auf die Biographie Habil Kılıçs ein. Mit dem Laden in der Bad-Schachener-Straße in München-Ramersdorf, in unmittelbarer Nähe zu ihrer damaligen Wohnung, habe, so Kaniuka weiter, die Familie versucht „sich etwas aufzubauen, auf eigenen Füßen zu stehen, unabhängig zu sein, auch etwas zu wagen – darum ist es ihnen gegangen, und das ist ihnen den Einsatz wert gewesen“. Ihre Mandantin habe, wenn sie mittags aus der Schule kam, oft in einem Raum hinter dem eigentlichen Laden gesessen und dort ihre Hausaufgaben gemacht. Das Geschäft, in dem später Habil Kılıç ermordet wurde, sei „eine Art erweitertes Zuhause“ geworden. Kaniuka: „Es war ein ganz normales und unspektakuläres Leben mit den üblichen Höhen und Tiefen, das Habil Kılıç mit seiner Familie geführt hat. Als es am 29. August 2001 ausgelöscht wurde, war er gerade einmal 38 Jahre alt.“ Zur Tatzeit des Mordes an Habil Kılıç seien Schulferien gewesen und ihre Mandantin sei mit der Mutter für zwei Wochen in Urlaub gefahren: „Herr Kılıç war daheim geblieben, damit der Laden nicht geschlossen werden musste. Dafür hatte er bei seiner Firma extra Urlaub genommen. Angestellte hatten sie ja keine, dafür warf das Geschäft nicht genug ab.“ Der letzte Kontakt zwischen Vater und Tochter sei ein Telefonat am Morgen seines Todes gewesen.
Zu den Ermittlungen der Polizei sagte Kaniuka, dass es gewiss nichts daran auszusetzen gebe, dass die Polizei bei einem Tötungsdelikt, bei dem erst einmal konkrete Hinweise auf den oder die
Täter gefehlt haben, beim Umfeld des Opfers ansetzt: „Aber darum geht es hier gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Ermittler sich von Anfang an festgelegt hatten. Nämlich darauf, dass Anlass und Motiv der Tat nur in Verstrickungen des Opfers selbst in irgendwelche kriminellen Machenschaften zu finden sein könnten. Die Arbeitshypothese war, dass es im Leben von Habil Kılıç eine dunkle Seite – so ist es formuliert worden – gegeben haben müsse, über die der Fall zu lösen sei. Und dann hat man sich konsequent und ohne groß nach links und rechts zu gucken auf die Suche nach einem dunklen Punkt gemacht. (…) Aber egal, wie hartnäckig man auch gesucht hat – gefunden hat man nichts. Wie auch: Die dunkle, kriminelle Seite im Leben von Herrn Kılıç hat es schlichtweg nicht gegeben. Derweil haben die Täter des NSU ungestört weiter gemordet. Herr Kılıç war ein völlig unauffälliger Familienvater, von Freunden und Kollegen gemocht und geschätzt, ein freundlicher Mann, redlich, hilfsbereit, lebensfroh, fleißig und gleichzeitig ebenso wenig perfekt wie jeder andere auch. Er hat nicht sterben müssen, weil er in kriminellen Kreisen unterwegs gewesen wäre oder sich auf illegale Geschäfte eingelassen hätte. Nein, erschossen wurde er allein deswegen, weil er Türke war.“
Die Ermittlungen seien auch nicht erst in der Rückschau einseitig ausgerichtet gewesen, so Kaniuka. Sie wies auf die offensichtliche Gemeinsamkeiten der bis dahin vier Opfer hin und fragte, ob da nicht mal der Gedanke hätte kommen müssen, dass diese Gemeinsamkeiten auf ein rassistisches Motiv hindeuten könnten. Eine Erweiterung des potenziellen Tatmotivs auf Rassismus und Ausländerhass und eine Ausdehnung des möglichen Täterkreises auf die rechte Szene habe es damals nicht gegeben. Kaniuka: „Rechte Gewalt ist ein blinder Fleck in den Ermittlungen gewesen, das gilt für München wie für andere Tatorte. Egal worin man die Gründe dafür sehen mag – in institutionellem Rassismus, in alltäglichen Vorurteilen gegenüber Mitbürgern türkischer Herkunft, in Ignoranz oder in mangelnder Flexibilität oder Kreativität im kriminalistischen Denken – für meine Mandantin und die übrige Familie sind die Folgen jedenfalls die gleichen gewesen: Verdächtigungen, Spekulationen, Argwohn und Misstrauen, die ihnen entgegenschlugen; Freunde, die auf Distanz gingen; und Jahre ohne wirkliche Hoffnung, dass noch jemand herausfinden würde, von wem und warum der Ehemann und Vater ermordet worden war.“ Mehr noch: Für Habil Kılıç und seine Angehörigen habe eine irgendwie geartete „Unschuldsvermutung“ während der erfolglosen Ermittlungen jedenfalls nicht gegolten: „Man muss sich mal in die Situation des Kindes und seiner Mutter versetzen: Aus der unauffälligen, normalen und völlig harmlosen Mitschülerin vor den Ferien war ein paar Wochen später ein vermeintliches Sicherheitsrisiko geworden, zu dem man sie kurzerhand auf der Grundlage von Gerüchten und Spekulationen erklärt hatte. Wenn jemand Schutz und Unterstützung gebraucht hätte, dann sie selbst.“
Es gebe, so Kaniuka, nach wie vor eine Reihe von Unbekannten in diesem Verfahren, etwa ein „etwaiges Unterstützerumfeld des NSU über die Mitangeklagten“ hinaus; die Frage, ob Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Helfer vor Ort gehabt haben, wer diese Personen waren und welche Rolle sie ggf. bei Auswahl und Ausspähung von Opfern und Tatorten gespielt haben. Kaniuka: „Wir wissen nicht, auf welchen Wegen Herr Kılıç in München ins Visier dreier Rechtsterroristen in Zwickau geraten ist. Wir kennen nur das Ergebnis. Es gibt Tatorte, bei denen es schwer vorstellbar ist oder sogar ausgeschlossen erscheint, dass das Trio ohne das Zutun ortskundiger Personen überhaupt auf sie aufmerksam geworden wäre – die Kollegin Lunnebach [387. Verhandlungstag] hat dies für die Probsteigasse in Köln anschaulich dargelegt, die Kollegin Başay [403. Verhandlungstag] absolut überzeugend für die Tatorte in Nürnberg. Beim Tatort im Mordfall Kılıç halte ich es bei näherer Betrachtung für offen. Das liegt einfach an einigen Besonderheiten und Auffälligkeiten dieses speziellen Falles und bedeutet keineswegs, dass ich damit der These eines Unterstützernetzwerkes eine Absage erteilen möchte.“ Kaniuka diskutierte dann die vorliegenden Hinweise, die im Fall der Ausspähung des Tatorts und der Ermordung von Habil Kılıç für und gegen lokale Helfer_innen des NSU sprechen – etwa die Tatsache, dass Habil Kılıç, der unter der Woche einem anderen Beruf nachging, üblicherweise nur an Samstagvormittagen allein im Laden arbeitete, oder die Tatsache, dass sich der Laden der Familie Kılıç in unmittelbarer Nachbarschaft einer Polizeidienststelle befand. Kaniuka: „Man kann über all das endlos spekulieren, ohne je zu wissen, wie nahe man der Wahrheit dabei tatsächlich kommt. Jedenfalls solange die Angeklagte Zschäpe, die Aufschluss darüber geben könnte, vorgibt, nichts zu wissen.“
Kaniuka ging dann auf den Versuch Zschäpes ein, eine Erklärung für den Fingerabdruck zu konstruieren, der auf einem Zeitungsausschnitt zum Mord an Habil Kılıç aus dem sogenannten NSU-Archiv gesichert werden konnte. Kaniuka: „Anlässlich einer kontroversen Diskussion über die Anschläge vom 11. September sollen sich Böhnhardt und Mundlos ihr gegenüber mit dem Mord an Habil Kılıç ‚gebrüstet‘ haben – so hat sie es formuliert. ‚Gebrüstet‘ – will heißen: damit geprahlt, geprotzt, angegeben. Was sie da hat vortragen lassen, hat hinten und vorne keinen Sinn. Warum sollten Mundlos und Böhnhardt ihr gegenüber mit einer weiteren Tat geprahlt haben, wo sie doch angeblich bereits mit schockierter Ablehnung, Ausflippen und massiven Vorwürfen auf die Offenbarung früherer Morde ihrer beiden Gefährten reagiert haben will. (…) Gleichsam zur Abrundung oder zum Ausräumen gar nicht erst geäußerter Zweifel sollen sie dieser Frau, die nie nach Details gefragt hat, auch gleich noch einen Zeitungsausschnitt mit einem Bericht über den Mord an Herrn Kılıç präsentiert haben. Eine völlig krude Geschichte, die uns glauben machen soll, dass just bei dieser Gelegenheit der missliche Fingerabdruck auf den gewissermaßen aufgedrängten Zeitungsbericht geraten sein muss. Eine Zumutung – wie so vieles, was die Angeklagte uns hier nach wochenlangem Feilen an Einlassungen und Antworten in einer nichtssagenden Einlassung aufgetischt hat, wie sie steriler und inhaltsleerer, über Strecken hinweg banaler nicht hätte sein können.“ Wäre Zschäpe tatsächlich der Mensch, als der sie sich darzustellen versucht hat, dann wäre kaum vorstellbar, dass sie die monströsen Taten von Mundlos und Böhnhardt ertragen und die Situation ausgehalten hätte, so Kaniuka. Zschäpe habe das aber alles gekonnt, und zwar deshalb, „weil die Taten von Mundlos und Böhnhardt auch ihre Taten waren. Jede einzelne. Auch der Mord an Habil Kılıç. Von ihr gewollt, mitgeplant und mitbegangen.“ Zschäpes Rolle bei den Taten könne, so Kaniuka, mit dem Zitat einer Zeugin bzgl. des Auftretens von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Urlaub am besten beschrieben werden: „Jeder hat das getan, was er am besten konnte.“
Abschließend stellte Rechtsanwältin Kaniuka fest: „Auch ich bin überzeugt davon, dass Frau Zschäpe die Antworten auf die Fragen, die viele Nebenkläger bis heute quälen, kennt und sie ihnen bewusst verweigert. Vielleicht als Teil einer Verteidigungsstrategie, von der sie noch immer hofft, dass sie aufgehen wird. (…) Vielleicht geht es hier aber auch einfach nur um Macht. Böhnhardt, Mundlos und die Angeklagte Zschäpe haben sich über Jahre hinweg die denkbar größte Macht angemaßt, indem sie über Leben und Tod von Menschen entschieden haben. Und dann in den Medien verfolgen können, wie die Ermittlungsbehörden im Dunkel getappt sind und sich von ihnen in die Irre haben führen lassen. Wie sich die von ihnen beabsichtigte Unsicherheit breitgemacht hat. Und wie obendrein ihre Opfer durch die Richtung der Ermittlungen in Misskredit geraten sind. Alles ihr Werk, das sie mit der Herstellung des Videos zusätzlich ausgekostet haben. Lange Zeit so viel Macht in einem ansonsten leeren Dasein, das sie mit geliehenen Identitäten und auf Kosten anderer geführt haben, und dann ist auf einmal nichts mehr davon übrig. Außer dem kümmerlichen Rest, Dinge zu wissen, die andere nicht wissen, aber so gerne erfahren würden; Hinterbliebene bitten zu lassen, zappeln zu lassen; sie nicht von der Ungewissheit zu erlösen. So lange es geht noch ein kleines bisschen Macht auszuüben – vielleicht, Frau Zschäpe, steckt das – oder zumindest auch das – hinter Ihrem Verhalten in diesem Prozess. Wenn ja, dann geht dieser Bodensatz an vermeintlicher Macht bei meiner Mandantin jedenfalls ins Leere. Sie, Frau Zschäpe, haben ihr mit dem Mord an ihrem Vater großes Leid zugefügt, das ihr Leben geprägt hat. Aber ich kenne [die Mandantin]als eine starke Persönlichkeit, deren Seelenfrieden nicht davon abhängt, ob Sie am Ende vielleicht doch noch einen Schritt in Richtung der Nebenkläger tun, so wünschenswert das auch wäre. Trotz der Steine, die Sie ihr in jungen Jahren in den Weg gelegt haben, und allen Schwierigkeiten zum Trotz hat sie erfolgreich ihren Weg gemacht und ihren Platz gefunden. Sie lässt sich nicht vertreiben, ebenso wenig wie ihre Mutter, beide gehören hierher, ebenso wie Herr Kılıç hierher gehört hat.“
Einschätzung des Blogs „NSU-Nebenklage“.
Tageszusammenfassung 403. Verhandlungstag, 10. Januar 2018
Siebzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Der Prozesstag begann mit Verzögerung, da anscheinend eine medizinische Betreuung bzw. Untersuchung des Angeklagten Ralf Wohlleben vonnöten war. Nach der Eröffnung des Hauptverhandlungstages teilte der Vorsitzende Götzl denn auch mit, dass es mit den Rückenschmerzen des Angeklagten tatsächlich Probleme gebe und deshalb zunächst der Gerichtsarzt von Oefele als Zeuge gehört werden solle. Von Oefele attestierte Wohlleben tatsächlich eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit wegen der nachvollziehbar geschilderten Beschwerden und dass er wohl nicht länger als bis Mittag verhandlungsfähig sein würde. Außerdem, so von Oefele, gebe es an diesem Nachmittag in der JVA Stadelheim die Möglichkeit, den Angeklagten einer orthopädischen Untersuchung nebst Röntgen zu unterziehen. Götzl verfügte daraufhin, dass nur bis Mittag verhandelt werden würde und sowohl die Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız ihr Plädoyer beenden können als auch ihr Mandant Abdul Kerim Şimşek vorher noch zu Wort kommen sollte.
Rechtsanwältin Başay-Yıldız ging zunächst auf die Einlassung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe ein: Nach Zitaten aus der von ihren Neu-Verteidigern verlesenen Aussage vom 09.12.2015, fragte sie rhetorisch: „Perspektivlosigkeit und Frustration hätten dazu geführt, dass Enver Şimşek umgebracht wurde? Das ist mit Verlaub eine Geschmacklosigkeit, was die Angeklagte da von sich gibt“.
Başay-Yıldız widerlegte dann mit einer detaillierten Analyse der Lage der Tatorte und der beim NSU aufgefundenen Ausspähnotizen die These der Bundesanwaltschaft, nach der es in Nürnberg keine lokalen Unterstützer_innen gegeben habe. Mit Kartenausschnitten, einer detaillierten Liste von möglichen Anschlagszielen und einer meisterlichen Deduktion aus den erhobenen Beweisen kam sie zu dem eindeutigen Schluss: „Betrachtet man also die logistischen Voraussetzungen, so spricht nichts dafür, dass das Trio tatsächlich ohne Hinweise von außen in Städte gefahren ist, um dann nach möglichen Tatorten selbstständig zu suchen.“ Die Ausspähnotizen sprächen gerade nicht dafür, dass hier Beobachtungen niedergelegt sind, die Mundlos und Böhnhardt selbst gemacht hätten, sondern es spreche sehr viel mehr dafür, dass es sich um die Beobachtungen dritter Personen handelt. Başay-Yıldız leitete diesen Schluss dann konkret aus den ersten drei Tatorten in Nürnberg her und legte so dar, wie unwahrscheinlich es sei, dass Mundlos und Böhnhardt diese Tatorte ohne örtliche Helfer ausgekundschaftet haben. Schon im Jahr 1999 war es in der Nürnberger Scheurlstraße zu dem so genannten „Taschenlampenanschlag“ gekommen, eine zu einer Rohrbombe präparierte Taschenlampe explodierte damals in den Händen einer türkeistämmigen Person, die dabei schwer verletzt wurde. Der Anschlag war erst im Prozess nach Aussagen des Angeklagten Schultze zutage gekommen, nicht etwa durch Ermittlungen der Behörden. „Wie also kommen Mundlos und Böhnhardt darauf, dass gerade in dieser Gaststätte mit dem urdeutschen Namen ‚Pilsstube Sonnenschein‘ ein Türke arbeitet?“, fragte Başay-Yıldız, „es gibt schlicht und einfach keine vernünftige Vorstellung, wie ein Außenstehender, dem keine Hinweise erteilt werden, sich gerade diese Gastwirtschaft als Objekt seines ersten Bombenanschlags aussucht“. Nach Exkursen in diesem Tenor zu den Morden an Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar nahm die Nebenklageanwältin dann die „Trio-These“ der Bundesanwaltschaft im Zusammenhang mit dem Tatort des ersten bekannten Mordes des NSU an Enver Şimşek mit ähnlicher Präzision auseinander. Sie kam hier zu dem Schluss: „Am absolut unwahrscheinlichsten ist die Theorie von den nicht existierenden Helfern vor Ort allerdings bezogen auf den Mord an Enver Şimşek“.
Dann ging sie ausführlich auf mögliche Helfer_innen und Motive der Täter ein und stellte damit einmal mehr in beeindruckender Weise die Untätigkeit der Ermittlungsbehörden und der Bundesanwaltschaft bloß: Gerade etwa beim Mord an İsmail Yaşar gebe es Hinweise auf mögliche Rachegedanken in der damaligen rechten Szene vor Ort. So sei ein Mitglied der Nürnberger Naziszene, Jürgen F., 2004 wegen einer Sachbeschädigung zulasten von Yaşar verurteilt worden: „Einige Monate später war İsmail Yaşar tot“. Das Bundeskriminalamt habe in diese Richtung nicht weiter ermittelt, so Başay-Yıldız: „Dies überrascht, zumal Jürgen F. und der Angeklagte Ralf Wohlleben sowie der Angeklagte Holger Gerlach, sowie Stefan Apel, Kai St. und Uwe Mundlos am 18.02.1995 gemeinsam an einer Skinhead-Veranstaltung in der Gaststätte ‚Tiroler Höhe‘ in der Sterzinger Straße in Nürnberg teilgenommen haben.“ Die Telefonnummer der als Nazitreff bekannten Kneipe „Tiroler Höhe“ habe sich wiederum auch auf der „Garagenliste“ von Uwe Mundlos befunden. Demnach, so Başay-Yıldız, habe es Kontakte der Angeklagten Gerlach, Wohlleben und des verstorbenen Uwe Mundlos nach Nürnberg nachweislich gegeben. All diesen elektrisierenden Spuren seien die Ermittler jedoch bis heute in keiner Weise nachgegangen. Zusammenfassend sagte sie: „Gegen die These, dass der NSU in Nürnberg oder auch in anderen Städten Helfer und Tippgeber hatte, spricht eigentlich nur, dass die Bundesanwaltschaft bisher noch keinen finden konnte“. Die Unterstützerthese sei aber allemal wahrscheinlicher als diese These der BAW. Wie einige ihrer Kolleg_innen aus der Nebenklage zuvor, zitierte Anwältin Başay-Yıldız am Schluss ihre verstorbene Kollegin Angelika Lex: „Wenn jeder einen Schritt weiter geht, als er sich ursprünglich vorgenommen hat, dann mache ich mir keine Sorgen“ und fügte hinzu: „Das sollten sich alle an der NSU-Aufklärung Beteiligten zu Herzen nehmen!“
Zu den erschütternsten und bewegendsten Momenten im ganzen NSU-Verfahren gehörten danach die Worte von Abdul Kerim Şimşek, Sohn des im September 2000 in Nürnberg vom NSU ermordeten Enver Şimşek: „Ich bin selbst Vater einer Tochter (…) und ich werde ihr irgendwann erzählen müssen, dass ihr Opa aufgrund seiner Herkunft von Nazis ermordet wurde“. Kaum auszuhalten war die Schilderung, wie der damals 13-Jährige seinen sterbenden Vater – von fünf Schüssen in den Kopf und weiteren Kugeln in den Oberkörper getroffen – auf der Intensivstation eines Nürnberger Krankenhaus zu Gesicht bekam. „Auch ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt: wieso mein Vater? Wie krank ist es eigentlich, jemanden nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe zu ermorden? Was hat mein Vater Ihnen angetan?“ Und: „Können Sie verstehen, was es heißt, den Vater im Bekennervideo blutend auf dem Boden liegen zu sehen und zu wissen, dass er da stundenlang hilflos lag?“ Nur den Angeklagten Carsten Schultze nahm Şimşek aus den laut und vernehmlich geforderten Höchststrafen für die Angeklagten aus, seine Entschuldigung nehme er an, weil er glaubhaft Reue gezeigt und zur Aufklärung beigetragen habe. Um kurz vor 12 Uhr wurde der Prozess auf den kommenden Tag vertagt.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.
Tageszusammenfassung des 402. Verhandlungstag – 09. Januar 2018
Sechzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Zum heutigen 402. Prozesstag waren drei Mitglieder der Familie Boulgarides und zwei Mitglieder der Familie Şimşek als Nebenkläger_innen erschienen, da Plädoyers ihrer juristischen Vertreter_innen erwartet wurden. Mit dem Hinweis der Verteidigung des Angeklagten Ralf Wohlleben, dass ihr Mandant gesundheitliche Probleme habe, war jedoch schon die Richtung des Hauptverhandlungstages angedeutet.
Zunächst jedoch plädierte der Nebenklageanwalt Markus Goldbach, der Opfer des Nagelbombenanschlags im Juni 2004 in der Kölner Keupstraße vertritt. Goldbach erklärt zunächst, es seien keine Verfahrensfehler gemacht worden, das Urteil werde Bestand haben, eine Tataufklärung sei erfolgt. Ob das aber reiche, fragt Goldbach: Die entscheidende und quälenden Fragen der Betroffenen seien bis heute nicht beantwortet. Nachdem er dem Angeklagten Carsten Schultze und auch Holger Gerlach Respekt für ihre Aussagen und Aussagebereitschaft zollte, gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Angeklagten Wohlleben und Eminger stärker verstrickt und der Beihilfehandlungen zu einzelnen Verbrechen des NSU schuldig seien. Anders als viele andere Plädierende der Nebenklage hält Goldbach die Angeklagte Beate Zschäpe durchaus nicht für willensstark, sie habe eine Persönlichkeit ohne eigenen Kern und eigene moralische Maßstäbe. Sie sei zwar in alles involviert gewesen, was der NSU im Untergrund getrieben habe, ob sie jedoch tatsächlich als Mitttäterin zu verurteilen sei, werde der Senat im Urteil sehr genau begründen müssen. Zschäpe fülle im Verfahren nicht den Raum aus, den Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hier eingenommen hätten, wenn sie denn lebend gefasst worden wären, so Goldbach. Es sei bedauerlich, dass sie nach dem Hickhack mit ihrer Alt-Verteidigung nun „an diese neuen Anwälte geraten“ sei. Zschäpe zeige keinen Fanatismus, lächele sogar die Fotografen im Saal an. Sie lächele, als habe sie mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun, so schloss Goldbach; diese innere Leere sei es, die sie so monströs erscheinen lasse.
Danach war die Nebenklageanwältin Seda Başay-Yıldız an der Reihe. Sie plädiert für die Nebenklage der Familie des im September 2000 in Nürnberg vom NSU ermordeten Enver Şimşek. Sie schilderte den Tathergang des brutalen Mordes an dem damals 38-jährigen Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern und wie er nachdem ihn acht Kugeln aus zwei Waffen getroffen hatten, fünf davon in den Kopf, erst zwei Tage später im Krankenhaus verstarb. Danach schilderte sie auf berührende Weise den Menschen Enver Şimşek: „“Er hatte ein inniges Verhältnis zu seinen Kindern. Er wollte mehr Zeit mit ihnen verbringen. (…) Enver Şimşek wäre heute 56 Jahre alt. Er hat viele schöne Momente in seinem Leben verpasst.“. Die Entscheidung, den Vater in der Türkei zu beerdigen, sei richtig gewesen, so Başay-Yıldız: „Sie können in Deutschland noch nicht mal eine Gedenktafel an dem Ort anbringen, wo er zu Tode gekommen ist, ohne dass diese immer wieder mit Hakenkreuzen beschriftet wird, so wie es bei der Gedenktafel für Enver Şimşek in Nürnberg zuletzt immer wieder der Fall war.“ Başay-Yıldız beschrieb die unaufhörlichen Ermittlungsmaßnahmen der Polizei gegen die Familie, inklusive umfangreicher Abhörmaßnahmen und Durchsuchungen. Das Amtsgericht Nürnberg genehmigte Durchsuchungen mit den Worten: „Es ist anzunehmen, dass die Betroffenen mit den Tätern in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird“. Die Tortur, der das größere Familienumfeld der Şimşeks durch jahrelange Verdächtigungen – sei es im Kontext mit angeblichen Drogengeschäften oder einer angeblichen Eifersuchtstat der Ehefrau des Ermordeten – ausgesetzt war, widmete Başay-Yıldız einen großen Teil ihres Plädoyers: Unfassbar auch heute noch, dass die Behörden von der Familie auch nicht abließen, nachdem sich alle Unterstellungen als falsch erwiesen hatten und auch üble und rechtswidrige Tricks keine Ergebnisse erbrachten. So wurde der Ehefrau des Ermordeten das Bild einer „fremden Frau“ gezeigt und behauptet, dies sei die Geliebte ihres Mannes gewesen. Die Geschichte war frei erfunden. Man kann sich nicht vorstellen, welche Qualen derartige Polizeiarbeit bei den Betroffenen verursachte. Zu allen ausufernden Vernehmungen sei Adile Şimşek erschienen und habe sie über sich ergehen lasen: Sie habe, das unterstrich die Anwältin, helfen wollen, den Mord an ihrem geliebten Mann aufzuklären. Niemand in der Familie habe auch die Notwendigkeit bezweifelt, im Umfeld des Opfers zu ermitteln. Aber die Behörden haben nicht aufgehört mit den Verdächtigungen: Erst im November 2011 hat die Familie die wahren Hintergründe erfahren.
Detailliert ging die Anwältin darauf ein, welchen Zeug_innenhinweisen auf Täter und auf ein mögliches rassistisches Motiv die Polizei über zehn Jahre lang nicht nachging. Und in Sachen Persönlichkeitsrechte machte Başay-Yıldız folgenden Vergleich auf: Der Beiziehung der Akten im Falle Temme sei die Bundesanwaltschaft stets mit Verweis auf die Persönlichkeitsrechte Temmes entgegengetreten. Wie aber wurde mit den Opfern verfahren? Enver Şimşeks Bild wurde bei „Aktenzeichen XY“ im Kontext mit Drogenkriminalität oder einer Beziehungstat gezeigt: Seine Persönlichkeit genoss keinerlei Schutz, so Başay-Yıldız. Jedes Fitzelchen im Kontext mit „Organisierter Kriminalität“ sei im Rahmen der Ermittlungen mit irrem Aufwand verfolgt worden, Hinweise auf „Deutsche“ jedoch so gut wie nie verfolgt, zu einem rassistischem Motiv nicht ermittelt worden. Es habe, so sei auch hier im Verfahren zur Verteidigung der Polizeiarbeit argumentiert worden, keinen Hinweis auf ein rechtes Motiv gegeben. Es habe aber, so Başay-Yıldız, eben auch keinen Hinweis auf Organisierte Kriminalität oder etwa auf eine Eifersuchtstat gegeben, „und trotzdem wurde dieser Ermittlungsansatz mit viel Energie und schrecklichen Folgen für die Familie von der Polizei verfolgt“. Dass sich der Polizeiapparat dies bei allen Opfern habe vorstellen können, habe mit der Herkunft der Opfer zu tun. Vorurteile hätten die Abläufe, Einstellungen oder Handlungen der Behörden bestimmt, was zu Verunsicherung geführt habe: „Natürlich haben die Morde dazu geführt, dass migrantische Bevölkerungsgruppen in diesem Land verunsichert sind und sich nicht geschützt fühlen, insoweit war der NSU erfolgreich“. Den ersten Teil ihres Plädoyers beschloss Başay-Yıldız so: „95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie Opfer eines rassistischen Anschlages sein. Sie werden nie in die Situation kommen, dass das Haus, die Wohnung, in dem Sie mit Ihrer Familie und Ihren Kindern leben, in dem Sie sich geschützt und zuhause fühlen, in Brand gesteckt wird. Sie werden nicht in die Situation kommen, den Namen auf ihrem Briefkasten oder der Klingel zu entfernen, damit von außen nicht erkannt wird, dass hier eine ausländische Familie wohnt. 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie in die Situation kommen, dass man ihnen oder ihren Angehörigen an ihrem Arbeitsplatz – während sie arbeiten – in den Kopf schießt, weil sie Ausländer sind. 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden auch nie verstehen, was es heißt, wenn die Polizeibeamten dieses Landes nicht in der Lage sind, sie unabhängig von ihrer Herkunft zu schützen. Und nicht nur das, sie verdächtigen, selbst Schuld an Ihrem Tod zu haben. Deswegen können Sie auch nicht begreifen, was solche Taten mit Menschen anstellen.“
Ein ziemlich ekelhaftes Detail am Rande dieses Prozesstages: Ab dem späten Vormittag ließ sich Wohlleben-Verteidigerin Schneiders kurz durch den Nazianwalt Steffen Hammer vertreten. Hammer war Sänger der Neonaziband „Noie Werte“. Mit zwei Songs der Band unterlegte der NSU eine frühe Version seines perfiden Bekennervideos.
Wegen angeblicher Rückenschmerzen des Angeklagten Wohlleben musste der Prozesstag unmittelbar nach der Mittagspause unterbrochen werden. Seda Başay-Yıldız wird morgen ihr Plädoyer fortsetzen. Auch der Nebenkläger Abdul Kerim Şimşek soll morgen zu Wort kommen.
Einschätzung des Blog NSU-Nebenklage.
Zusammenfassung des 401. Verhandlungstag – 20. Dezember 2017
Fünfzehnter Tag der Plädoyers der Nebenklage
Der Verhandlungstag begann mit einer Stellungnahme der Bundesanwaltschaft zur gestrigen Beanstandung durch die Verteidigung Wohlleben. Wie zu erwarten, argumentierte OStAin Greger, dass die Beanstandung substanzlos sei. Bis zu einer Entscheidung über die Beanstandung wollte Richter Götzl dennoch nur Plädoyers entgegennehmen, die keine eigenen Strafanträge enthalten.
Als erstes plädierte dann Rechtsanwalt Ferhat Tikbas, der die Tochter des am 13. Juni 2001 in Nürnberg vom NSU ermordeten Abdurrahim Özüdoğru vertritt. Tikbas rief noch einmal in Erinnerung, dass Abdurrahim Özüdoğru durch zwei Schüsse hingerichtet wurde. Tikbas: „Ja, er wurde hingerichtet.“ Tikbas erinnert daran, dass auch der Vater seiner Mandantin von den Tätern nach seiner Ermordung fotografiert wurde. Tikbas: „Wie skrupellos und vor allem gezielt das Trio vorgegangen ist, zeigt, dass bereits bei der ersten Hinrichtung das Opfer fotografiert wurde. Dies lässt den Schluss zu, wie organisiert und professionell vorgegangen wurde.“ Es sei nichts dem Zufall überlassen worden, so Tikbas, er persönlich sei daher der Auffassung, dass die Opfer nicht zufällig ausgesucht worden sind: „Vielmehr bin ich der Meinung, dass hier ortskundige Personen, Helfer im Vorfeld Ziele nach bestimmten Vorgaben ausgesucht und diese weitergeleitet haben.“ Auch andere Indizien sprächen gegen die Triotheorie, etwa die Selbstbezeichnung des NSU als „Netzwerk von Kameraden“. Zu Zschäpe und ihrer Behauptung, dass sie nicht gewusst habe, was auf den verschickten Bekenner-DVDs war, sagte Tikbas: „Da stellt sich die Frage, für wie blöd halten Sie uns eigentlich?“ Das In-Umlauf-Bringen der DVDs sei mindestens genauso schrecklich gewesen, wie das Abdrücken der Waffe: „Weil man hier den Hinterbliebenen nochmal klar gemacht hat, wie viel Wert das jeweilige Leben, Opfer aus Sicht des Trios hatte, nämlich keinen. Die Hinterbliebenen sollten Jahre später nochmal gedemütigt und erniedrigt werden.“
Tikbas verlas dann eine Erklärung seiner Mandantin, die wir hier auszugsweise zitieren: „Mein Vater lebte bereits schon 29 Jahre in Deutschland, als diese Tat passierte. Ein junger Mann, der aufgrund seiner guten schulischen Leistungen ein Stipendium für ein Studium in Deutschland erhielt und so 1972 an der Universität Erlangen das Studieren begann. Ein Mann, der seine gesamte Jugend hier in Deutschland verbracht und viele deutsche Freunde hatte, ein Mann, der mit der deutschen Kultur und ihren Menschen zusammengeschmolzen war. Dieser Mann, mein geliebter Vater, wurde in einem 1.Welt-Land, in dem ökonomisch und technisch hochentwickelten modernen Deutschland am Tageslicht kaltblütig, brutal und auf professionelle Weise ermordet. Von Mördern, die ihre eigene Unfähigkeit, dem Leben etwas Positives abzugewinnen, auf unschuldige Menschen übertragen haben, von sinnlosem Hass und Minderwertigkeitskomplexen getrieben. Sie haben den Weg der Charakterschwachen gewählt und somit auch gänzlich ihr eigenes Leben verbaut. Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt.“ „Das Ziel, die Gesellschaft auseinander zu dividieren, das haben Sie allerdings deutlich verfehlt. Und Sie haben es auch nicht geschafft, Menschen wie mich aus diesem Land heraus zu ekeln. Im Gegenteil, jetzt sind wir alle, sowohl Deutsche als auch ausländische Mitbürger, die in diesem Land ihre Lebenszeit verbringen, sensibilisierter denn je. Es ist mein Heimatland. Ich bin eine deutsche junge Frau mit ausländischen Wurzeln, die in diesem Land geboren ist, und fremd fühlt sich hier schon längst niemand mehr. Wir sind die Jugend, die Gesellschaft, die den Weg der Charakterstarken wählten und bemühen uns für Menschen und dieses Land nützlich zu sein, anstatt durch Hass und primitive Gefühle uns lenken zu lassen.“ „Es ist ein Schatten auf Deutschland gefallen. Es ist die Aufgabe von allen zuständigen Behörden und Institutionen, diesen Schatten wegzuwischen und den Familien inneren Frieden zu schenken. Leider bin ich auch, wie die anderen Opferangehörigen, der Meinung, dass dies nicht ausreichend geschehen ist. Die lückenlose Aufklärung der Hintergründe wurde nicht wie versprochen erfüllt. Es war auch gesellschaftlich eine wichtige Chance gewesen, um gefährliche Strukturen zu unterbinden und auch das hinterlassene negative Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Vor allem in diesem Punkt richten sich meine Worte nicht nur an die Gerichtsverhandlung, sondern auch an alle zuständigen Behörden und Institutionen. Dies ist eine ernstzunehmende Verantwortung von allen und darf nicht missachtet werden. Ich meine, dass das Gewissen ein guter Wegweiser ist. Wir haben gut genug und deutlich mitbekommen, was Verdrängung und Verharmlosung der Tatsachen für Folgen hat. Früher oder später fliegt alles auf und am Ende schadet es den ganzen Institutionen und Behörden und ganz Deutschland, denn Sie verlieren das Vertrauen der Menschen in Deutschland. Und Vertrauen ist das, was einem Land Stabilität verleiht.“
Es folgte das Plädoyer von Nebenklageanwalt Bernd Max Behnke, der einen Bruder des am 25. Februar 2004 in Rostock vom NSU ermordeten Mehmet Turgut vertritt. Ihm und seinem Mandanten, so Behnke, sei es persönlich unerträglich, „dass eine solche, bis zum November 2011 eigentlich undenkbare Mordserie in unserem Land geschehen konnte. Ich bin fassungslos, dass diese zehn Todesopfer zu beklagen sind.“ Rechtsanwalt Behnke nannte die Namen aller Mordopfer und ihre Todestage, um deutlich zu machen, dass er und sein Mandant sich vor ihnen und ihren Familien im Gedenken verneigen möchten. Anders als andere Nebenklagevertreter_innen lobte Behnke die Bundesanwaltschaft, diese habe ein so in sich geschlossenes, überzeugendes Plädoyer gehalten, wie er es noch nie erlebt habe. Behnke sprach von „punktgenauer Ermittlung und Auswertung der Erkenntnisse in diesem Verfahren“. Behnke: „Der Rechtsstaat hat damit seine notwendige Stärke gezeigt.“ Auch Behnke wies darauf hin, dass Mehmet Turguts Familie nach der Tat keine Unterstützung von der Polizei und anderen Behörden erhalten habe, vielmehr seien die Familienangehörigen mit unzumutbaren polizeilichen Maßnahmen konfrontiert worden. Im Unterschied zu den meisten bisher gehörten Nebenklagevertreter_innen stellte Behnke aber die steile Behauptung auf: „Es gibt in Deutschland auch keinen strukturellen oder behördlichen Rassismus.“ Stattdessen verwies Behnke auf die angeblich mangelnde Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Länder und das Neue am Vorgehen des NSU, die die damals bereits mögliche Ermittlung des NSU durch die Behörden wohl unmöglich gemacht hätten. Wer anderes behaupte, so Behnke in deutlicher Nähe zu den Ausführungen der Bundesanwaltschaft, stifte Unfrieden und Verunsicherung. Hier folgte bei Behnke auch ein Angriff auf einen Großteil der anderen Nebenklagevertreter_innen. In Behnkes Plädoyer ging es im Folgenden ausführlich um die Entwicklung der Angeklagten und insbesondere ihre DDR-Sozialisation (Behnke sprach hier u.a. von früheren ethischen und religiösen, besonders christlichen Grundlagen des Lebens und der Erziehung, die in der DDR erfolglos hätten ersetzt werden sollen durch andere Werte) und um die Umbrüche zur Wendezeit. Behnke nannte eine „gebrochene Kulturentwicklung“ bei den Angeklagten und dass diese sich schulisch und beruflich nicht hätten stabilisieren können. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse seien zwar der Nährboden, so Behnke, es bedürfe aber auch einer individuellen Bereitschaft und Entwicklung zum Handeln der Angeklagten. Es folgten umfängliche Ausführungen zu „kriminellem Verhalten“ und zur „Theorie der differentiellen Kontakte“. Zum Abschluss forderte Behnke die Angeklagten auf, noch im Prozess Angaben zu den Taten und Tatumständen zu machen.
Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwältin Hilka Link, die den Sohn des am 9. Juni 2005 in Nürnberg vom NSU ermordeten İsmail Yaşar vertritt. Link sagte, ihr Mandant habe am Plädoyer teilnehmen wollen: „Durch das destruktive Verhalten der Verteidigung wurde ihm das unmöglich gemacht.“ Link führte zum Mord an İsmail Yaşar aus, dass eine perfide Besonderheit die Tatsache war, dass sich der Tatort schräg gegenüber der Schule befand, die ihr Mandant zu der Zeit besuchte. Um ein Haar wäre ihr Mandant Augenzeuge des Mordes an seinem eigenen Vater geworden oder sogar selbst Opfer. Der Mord an seinem Vater sei ein großer und unheilbarer Schock für ihren Mandanten gewesen, das ganze Leben sei umgekrempelt worden, so Link. Die Lebensgrundlage der Familie sei von einem auf den anderen Tag in Frage gestellt gewesen. Für ihren Mandanten, seine Mutter und Schwester sei ganz besonders belastend gewesen, dass sie sich über viele Jahre kein mögliches Motiv für die Bluttat vorstellen konnten. Zu weiterem Leid habe auch die Art und Weise der Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei geführt, dass von Ermittlerseite schnell die Rede davon gewesen sei, dass eine Erklärung nur in der Organisierten Kriminalität, in Drogengeschäften, in Bestrafungsaktionen im kriminellen Milieu liegen könne: „Alle diese Vermutungen, die letztlich Unterstellungen und Diffamierungen waren, richteten großen Schaden an.“ Für ihren Mandanten blieben Fragen offen: „Warum mein Vater? Warum wir?“ Auch nach der Entdeckung der wahren Täter habe die Familie nicht wirklich verstehen können, wieso İsmail Yaşar das Opfer sein musste. Hinzu kämen die Fragen, wie die Täter überhaupt auf İsmail Yaşar kommen konnten, die Frage danach, wie eng die Verbindung des THS zu Nürnberg und Franken war, welches Mitglied der Unterstützerszene für den NSU den Tatort ausgespäht hat, der auf dem Kartenmaterial im Brandschutt sogar markiert war. Die drei Täter hätten Nürnberg sicher nicht so genau gekannt, dass sie die Tatorte des Mordes an Enver Şimşek, des Mordes an Abdurrahim Özüdoğru und des Mordes an İsmail Yaşar gefunden hätten. Link fragte: „Wer half ihnen? Wer wies auf diese Orte hin? Wer bestimmte damit deren Tod?“ In Bezug auf den Mord an İsmail Yaşar warf Link die Frage auf, ob Beate Zschäpe an diesem Tag entgegen ihrem sonstigen Verhalten vielleicht sogar dabei gewesen sei, und verwies auf die Aussage der Zeugin Andrea Ca. [48. Verhandlungstag]. Link: „Die Täter sind Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos UND Beate Zschäpe. Ich habe das ‚und‘ bewusst betont, da nicht der geringste Zweifel besteht, dass Beate Zschäpe in alle hier angeklagten Taten von Anfang an mit eingeweiht war, diese mit geplant hat und sogar führend bei der Entwicklung der erforderlichen Logistik war.“ Zschäpe sei der Mittelpunkt des mörderischen Trios gewesen, so Link. Zum Prozess sagte Link: „Unser Mandant glaubt, dass der Prozess eine ordentliche, umfassende und befriedigende Aufarbeitung der Taten geleistet hat. Ich muss jedoch festhalten, dass viele Fragen unseres Mandanten offenbleiben.“ Antworten auf Fragen zum Verfassungsschutz und zur lokalen Unterstützerszene des NSU hätten im Prozess nicht gefunden werden können. Die Hauptverhandlung könne die Aufarbeitung der Thematik NSU aber auch nicht vollumfänglich leisten, so Link schon an früherer Stelle, insbesondere die Aufklärung des Versagens der VS-Behörden könne nicht Aufgabe des Gerichts sein.
Es folgte das Plädoyer von Rechtsanwältin Monika Müller-Laschet, die drei Betroffene des Nagelbombenanschlags des NSU in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 vertritt. Auch ihre Mandant_innen beschäftige die Frage nach dem Warum, so Müller-Laschet: „Diese Frage zog sich wie ein roter Faden durch den Prozess und auch durch das Leben meiner Mandanten.“ Die Hoffnung auf Beantwortung dieser Frage habe sich für ihre Mandant_innen jedoch nicht erfüllt. Ihre Mandant_innen hätten das Gefühl, nahezu fünf Jahre zu warten und dann doch mit leeren Händen da zu stehen. Müller-Laschet sagte, dass Warten das sei, „was meine Mandanten seit dem 9.6.2004 getan haben“: Warten, dass ihre Wunden verheilen, die wirklichen Täter gefunden werden und sie selbst rehabilitiert; Warten darauf, dass das Versprechen der Regierung nach Aufklärung sich erfüllt; Warten darauf, dass die Frage nach dem Warum beantwortet wird und „Warten darauf, dass das hier endlich, endlich, vorbei ist“. Bei ihren beiden männlichen Mandanten, so Müller-Laschet, sei im Laufe der Zeit aber auch die Einsicht und Entschlossenheit gekommen, mit dem Leben weiterzumachen und auf diesem Wege die Taten und die Ideologie des NSU Lügen zu strafen. Dies stelle für diese beiden Mandanten einen Sieg über den NSU dar. Der Kampf um die Rückkehr ins Leben habe bei diesen beiden Jahre gedauert. Ihre Mandantin leide aber nach wie vor massiv, ihre Rückkehr in die Normalität gestalte sich schwierig. Die Betroffene hätte sich vor allem eine Entschuldigung gewünscht, so Müller-Laschet, eine Entschuldigung hätte für ihre Mandantin eine Spur von Menschlichkeit bedeutet. Nun bleibe sie aber „zurück mit ihrem Trauma und ihrer Trauer“. Müller-Laschet: „Bei allen dreien bleibt somit zu sagen, dass der 9.6.2004 tiefe Spuren in Körper und Seele hinterlassen hat. Vergessen kann keiner den Tag, vergeben auch nicht. Vergebung hätte Übernahme von Verantwortung und Reue vorausgesetzt, was nicht erfolgt ist. Lediglich Carsten Schultze ist davon auszunehmen.“ Die Frage nach dem Warum könne auch nicht in philosophischer Art und Weise mit der Plattitüde beantwortet werden: Zur falschen Zeit am falschen Ort. Ihre Mandant_innen seien nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, sondern genau dort, wo sie hingehört haben, auf einer Straße in Köln, in Deutschland, wo sie ihren Angelegenheiten nachgegangen seien, in unserer Mitte. Die Keupstraße und ihre Bewohner seien „ein Teil unserer Gesellschaft, den wir dringend brauchen, weil er uns bereichert und weil die Menschen aus der Keupstraße durch ihr Zusammenstehen nach dem Anschlag für uns alle ein Vorbild sind“.
Anschließend plädierte Nebenklageanwalt Marcel Matt. Sein Mandant wurde beim Nagelbombenanschlag des NSU am 9. Juni 2004 in der Kölner Keupstraße verletzt. Die Hoffnung seines Mandanten sei, so Matt, dass „irgendwann alle Fragen der Hinterbliebenen beantwortet werden“. Sein Mandant vertraue darauf, dass der Senat die hier Angeklagten entsprechend verurteilen werde. Außerdem sei es der Wunsch seines Mandanten, dass nicht vergessen wird, dass vor dem Auffliegen des NSU die Betroffenen weit mehr im Fokus der Ermittlungen standen als die eigentlichen Täter. Sein Mandant habe ihn gebeten, dass im Urteil dokumentiert werden soll, dass die Ermittlungen gegen die Betroffenen, genau wie in den „Turner Tagebüchern“ beschrieben, gerade Teil des Tatplans waren. Matt ging dann darauf ein, warum seiner Überzeugung nach feststeht, dass es nicht zutreffen könne, dass Zschäpe vom Anschlag in der Keupstraße nichts wusste und nicht in die Vorbereitung einbezogen sein will. Beim NSU sei der Einsatz von Bomben gegen Menschen „von Anfang an geplant und beabsichtigt“ gewesen, so Matt. Wahrscheinlich hätte, so Matt, die Logistik hinter dem Anschlag in der Keupstraße ohne Zschäpe nicht so reibungslos laufen können. Matt: „Nicht aufgeklärt werden konnte, wo und wie genau die Bomben geplant, zusammengebaut und zu den Tatorten transportiert wurden und ob bzw. welche Helfer des sogenannten NSU jeweils vor Ort vorhanden waren“. Die „Triotheorie“ überzeuge ihn nicht. Die Logistik, die nötig ist, um eine solche Bombe wie beim Anschlag in der Keupstraße zur Umsetzung zu bringen, sei groß. Und genauso groß sei die Leistung, weder im Vorfeld, noch bei der Tatausführung noch bei der Flucht entdeckt zu werden. Zu den Verfassungsschutzbehörden sagte Matt, diese hätten „von Anfang an definitiv versagt“. Entgegen dem Versprechen der Bundeskanzlerin habe der VS gerade nicht für Transparenz gesorgt, habe Akten geschreddert und bis heute nicht all sein Wissen preisgegeben. Matt erklärte dann bewegend und selbst sichtlich bewegt, dass sein Mandant sich selbst nicht äußern wolle, ihn aber gebeten habe, deutlich zu machen, dass er dem Senat vertraue, die angemessene Strafe zu finden: „für all die Traumata, die Verletzungen, die Angst und den Schrecken, dafür, dass Schwestern und Brüder ihre geliebten Geschwister verloren haben, dafür, dass Väter und Mütter plötzlich ohne ihre geliebten Kinder leben mussten, dafür, dass geliebte Kinder ohne ihre geliebten Väter aufwachsen mussten, für diese große Trauer, das fast unermessliche Leid“.
Es folgten dann noch Abklärungen dazu, wie im neuen Jahr mit den wenigen verbliebenen Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt wird. Dann beendete Götzl den letzten Verhandlungstag des Jahres 2017. Weiter geht es am Dienstag, den 9. Januar 2018.
Einschätzung des Blogs NSU-Nebenklage.